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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Innern brodelte es. Der Wunsch, dem Alten einfach »Sauf oder stirb, aber lass mich in Ruhe« ins Gesicht zu schreien, wurde allmählich so mächtig, dass er nicht mehr wusste, wie lange er sich noch unter Kontrolle halten konnte.
    Der Muezzin sah zu Ali auf und hob eine Augenbraue, so als hätte er in diesem Haus nicht mit so viel Frömmigkeit gerechnet. Dann stand er ebenfalls auf.
    »Ja, wahrlich, Ali al-Hussein, Ihr habt wahr gesprochen. Allah ist groß, Allah ist mächtig, Allah ist gütig. Er sorgt für die Gläubigen«, krächzte er. »Wir haben Euch bei den Feierlichkeiten zum Ende des Ramadans in der Moschee vermisst. Allah möge es verhüten, aber Ihr wart doch hoffentlich nicht selbst das Opfer einer heimtückischen Erkrankung?«
    Ali biss die Zähne aufeinander und ballte hinter seinem Rücken die Fäuste. Nicht mehr lange und die angestaute Wut würde einfach aus ihm herausplatzen. Hatte man denn in dieser Stadt gar keine Ruhe? Musste jeder einzelne Schritt beobachtet und registriert werden? War er nicht ein freier Mann? Hatte er es wirklich nötig, über jede seiner Handlungen Rechenschaft abzulegen? Es gab Tage, da sehnte er sich weit fort. Irgendwo auf dieser Welt musste es doch einen Ort geben, an dem ein freier Mann wirklich frei leben konnte - ohne dass er von seinen lieben Mitmenschen ständig beobachtet wurde.
    »Ich musste im Hause bleiben«, antwortete er und war selbst überrascht, wie kühl und beherrscht seine Stimme immer noch klang. »Das Kind fühlte sich nicht wohl, und ich konnte es nicht mit gutem Gewissen allein den Dienern überlassen. Deshalb haben wir den Abschluss des Ramadans mit einem kleinen, bescheidenen Fest in meinem Hause gefeiert.«
    Der Muezzin nickte langsam. »Ach ja, das Kind, das bei Euch lebt. Ich hörte davon. Es ist ein Mädchen, nicht wahr?«
    »Ja.« Und diesmal fiel Alis Antwort deutlich schärfer aus.
    »Es ist mir unangenehm, Euch darauf aufmerksam zu machen«, fuhr der Muezzin fort. »Wirklich. Doch so mancher der Gläubigen in dieser Stadt nimmt Anstoß daran, dass Ihr als einflussreicher und gebildeter Mann ein Kind - noch dazu ein Mädchen - in Eurem Haus beherbergt. Sie fürchten, dass Euer Beispiel bei den Menschen niederer Herkunft und schlichten Verstandes Schule machen könnte. Die Sitten und der Glaube in Qazwin seien in Gefahr, so sagen sie. Erst gestern kamen zwei Mitglieder der Gemeinde zu mir, beides unbescholtene, ehrliche Männer, und baten mich um meinen Beistand in dieser Angelegenheit.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich will aufrichtig zu Euch sein, Ali al-Hussein. Ich kann die Sorge dieser Menschen verstehen, obwohl ich natürlich ihre Bedenken nicht teile. Ich weiß, dass Ihr ein rechtschaffener, gottesfürchtiger Mann seid. Aber immerhin seid Ihr nicht verheiratet.« Er hob bedauernd die Schultern. »Ihr kennt das einfache Volk, Ali al- Hussein. Sie denken nicht nach. Sie sehen nur, was ihnen offen vor Augen liegt. Ihr umgebt Euch mit seltsamen Dingen, beschäftigt Euch mit Wissenschaften, die sie nicht verstehen, und sucht nur äußerst selten die Moschee auf. Wie soll ich Euch verteidigen? Allah hat mir in Seiner unendlichen Güte das Wohl Seiner Gläubigen anvertraut. Als Muezzin der Stadt Qazwin habe ich die Pflicht, diese Kleinen vor dem Verderben zu schützen, ihre Seelen rein zu halten und sie zu Allah zu führen, damit sie eines Tages mit lauteren Herzen in das Paradies gelangen können. Sollte ich das Seelenheil der mir Anvertrauten gefährdet sehen, muss ich mich an den Emir wenden mit der Bitte, sich des Problems anzunehmen und gemeinsam mit Euch nach der besten Lösung zu suchen. Die Stadt würde mit Euch den besten Arzt verlieren, den sie je hatte, obwohl es natürlich niemals mein eigener Wunsch wäre.«
    »Ja, natürlich nicht«, erwiderte Ali und biss die Zähne zusammen, dass ihm beinahe die Tränen in die Augen traten. Eigentlich sollte man meinen, dass er im Laufe seines Lebens genügend Erfahrungen mit der Verbohrtheit der Menschen gesammelt hatte, um sich davon nicht mehr erschüttern zu lassen. Trotzdem ärgerte es ihn immer wieder - und jedes Mal regte er sich ein bisschen mehr darüber auf. Am liebsten hätte er dem Muezzin das falsche Lächeln vom Mund gewischt und ihm seine Faust so lange ins Gesicht geschlagen, bis er seinen eigenen und die neunundneunzig Namen Allahs dazu vergessen hatte. »Aber Ihr könnt den Gläubigen sagen, dass sie beruhigt sein können. Dieses Mädchen, von dem Ihr gesprochen

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