Das Auge der Fatima
andere auf dieser Welt.
Er wickelte sich in seinen Mantel. Einer der Stadtdiener war gerade damit beschäftigt, die an dem gegenüberliegenden Haus befestigte Lampe anzuzünden. Ali wartete, bis der Mann fertig war und seine Arbeit ein paar Häuser weiter fortsetzte, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung. Sein Weg führte ihn vorbei am Marktplatz und durch die schmalen Gassen des Basars. Die schweren Tische, auf denen bei Tage Messingwaren, Tuche, Geschirr, Gewürze und alle erdenklichen Waren aus der ganzen Welt ausgebreitet lagen und auf Käufer warteten, waren zu dieser vorgerückten Stunde leer. Die Türen der Geschäfte waren zugesperrt, die Fensterläden fest verschlossen. Es herrschte eine eigentümliche Stille in diesem Teil der Stadt, die in krassem Gegensatz zum Lärm und dem lebhaften Treiben des Tages stand. Ali war unheimlich zumute, während er die schmale Gasse der Tischler entlangging. Im spärlichen Licht der wenigen Sterne schimmer t en die Häuser seltsam bleich. Mit ihren dunklen Fensterläden sahen sie aus wie die Schädel von gigantischen Toten, die mit ihren düsteren Augenhöhlen jeden seiner zögerlichen Schritte verfolgten und ihn dabei hämisch angrinsten. Mehr als einmal ertappte Ali sich dabei, dass er sich erschrocken umdrehte und über die Schulter blickte. Natürlich war das alles Unsinn. Es gab keine Geister, die ihn jagen wollten. Das Einzige, was er zu fürchten hatte, waren Diebe, die ihm hinter Mauervorsprün'gen und in Hauseingängen auflauern und um seine Barschaft erleichtern konnten. Und selbst das war hier in dieser Gegend unwahrscheinlich. Diese Gasse war nach Einbruch der Dunkelheit stets verlassen und menschenleer, niemand ging hier entlang. Hier brannten keine Lampen, hier gab es weder Gasthäuser noch Moscheen, noch öffentliche Bäder, und niemand wohnte hier. Nicht einmal die Huren, die sonst überall in der Stadt zu finden waren, hatten sich diesen Ort ausgesucht, um in den düsteren Winkeln auf Freier zu warten. Die Gasse führte nirgendwohin, wohin man nach Einbruch der Dunkelheit noch hätte gehen wollen. Sie endete direkt an der Stadtmauer. Und dahinter, verborgen von einem großen schwarzen Tor, lag nichts mehr, nur der Friedhof.
Ali beschleunigte seine Schritte. Die Geschäfte der Tischler hatte er längst hinter sich gelassen. Danach kamen die niedrigen Häuser jener Händler und Handwerker, die ihr Brot mit dem Tod anderer Menschen verdienten - Leichenbestatter, Steinmetze, jene Weber, die die Grabtücher herstellten. Leichenzüge kamen hier vorbei, weinende, klagende Witwen und Witwer, Waisen und Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. Wer auch immer durch diese Gasse ging, den führte ein trauriger, schmerzvoller Anlass hierher. Vielleicht war das der Grund, weshalb niemand hier wohnen wollte. Sogar die Händler und Handwerker verließen bei Einbruch der Dunkelheit ihre Geschäfte und kehrten zurück in ihre Häuser, die in anderen, erfreulicheren Vierteln der Stadt lagen. In Vierteln, in denen das Lachen nicht im Halse stecken blieb.
Doch nicht alle Wohnungen waren verlassen. Ganz am Ende der Gasse, geduckt und dicht aneinander geschmiegt wie verängstigte Kinder, standen etwa ein Dutzend Häuser. Viele Leute sagten, diese Häuser seien verflucht. Selbst die Ärmsten der Armen schliefen lieber unter freiem Himmel, als hier auch nur eine Nacht zu verbringen. Und Ali konnte es ihnen nicht verdenken. Auch er spürte die seltsame Atmosphäre, die am Ende der Gasse herrschte. Sogar das Licht der Sterne schien hier blasser zu sein. Das schwarze Tor lag unmittelbar vor ihm. Düster und bedrohlich wirkte es eher wie die Pforte zur Hölle denn wie ein gewöhnliches Tor, durch das Menschen nach Belieben ein und aus gehen konnten.
Ein schwacher, ungewohnt eisiger Wind wehte Ali ins Gesicht und ließ ihn schaudern. Es war wie der Hauch des Todes, der vom kaum einen Steinwurf entfernten Friedhof herüberwehte und seine Wange streifte. Hastig sah er sich um, als würden sich sogleich Dämonen, Gespenster und andere Höllenwesen auf ihn stürzen, um ihm sein Leben zu rauben und ihn hinab in den finsteren Schlund ihrer Hölle zu ziehen. Für einen Moment dachte er daran, wieder umzukehren. Weshalb kam er nicht einfach bei Tageslicht zurück, wenn das Sonnenlicht alle Schatten vertrieben hatte und wieder Menschen die leeren Gassen bevölkerten?
Dummkopf, schalt er sich selbst im gleichen Augenblick. Wenn du jetzt davonläufst, wie willst du dann jemals
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