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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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habt, ist nämlich meine Tochter. Meine Frau starb kurz nach der Geburt des Kindes. Und da ich als Mann mit der Pflege von Säuglingen nicht vertraut bin, haben sich die Verwandten meiner verstorbenen Frau bereit erklärt, das Kind in ihrem Hause großzuziehen. Jetzt sahen sie jedoch den Zeitpunkt gekommen, das Mädchen bei seinem Vater aufwachsen zu lassen. Und ich habe mit Freuden diese heilige Pflicht angenommen, die Allah mir in Seiner Güte übertragen hat.«
    Der Muezzin schürzte die Lippen. Er schien Ali immer noch nicht wirklich zu glauben, konnte allerdings nichts dagegen einwenden.
    »Gut«, sagte er schließlich. Doch Ali vermutete, dass er bereits darüber nachdachte, auf welche Weise sich seine Geschichte überprüfen ließ. »Ich werde diese Botschaft an die Gläubigen weitergeben, wenn sie mich aufsuchen, um erneut meinen Rat zu erbitten.« Er verneigte sich knapp vor Ali. »Der Friede Allahs sei mit Euch.«
    »Mit Euch ebenso«, erwiderte Ali und verneigte sich ebenfalls. »Und vergesst nicht, Eure Arznei regelmäßig einzunehmen.«
    Als sich die Tür hinter dem Muezzin endlich wieder schloss, sank Ali erleichtert auf ein Sitzpolster in einer Ecke des Raums. Er fühlte sich, als hätte er mehrere Tage und Nächte durchgearbeitet. Wenn es einen Gott gab, dann brauchte er keine ewige Verdammnis, um die Sünder zu bestrafen. Die Hölle hatten sich die Menschen bereits auf Erden selbst bereitet. Müde rieb er sich die Stirn.
    »Ali?« Die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete sich einen Spalt, und Michelle streckte ihren blonden Schopf herein. Sie stand auf den Zehenspitzen, um den Türgriff festhalten zu können. »Darf ich hereinkommen?«
    Ali lächelte. »Natürlich, meine Kleine. Komm nur. Den letzten Patienten habe ich gerade eben fortgeschickt.«
    Das Mädchen hüpfte zu ihm und sprang ihm auf den Schoß.
    »Den Mann mit dem langen Bart?«, fragte sie. »War das der Weihnachtsmann?«
    Ali hatte keine Ahnung, was »Weihnachtsmann« bedeutete. Vermutlich war das ein Begriff aus Michelles Welt, der Welt einer ihm gänzlich unbekannten Zukunft.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er deshalb wahrheitsgemäß. »Ist der Weihnachtsmann denn lieb, oder ist er böse?«
    »Er ist lieb«, antwortete Michelle. Ein strahlendes Lächeln huschte über ihr hübsches kleines Gesicht und ließ ihre Augen leuchten. »Er hat einen langen Bart und einen Schlitten. Und Rentiere. Er bringt Geschenke.«
    »Dann war der Mann eben gewiss nicht der Weihnachtsmann«, erklärte Ali voller Überzeugung und vergrub sein Gesicht in ihrem weichen, nach Rosenöl duftenden Haar. Michelle trug ein Kleid aus roter Seide mit gelber Stickerei am Saum. So wie dieses Kind stellten sich vermutlich die Gläubigen einen Engel vor. Und für einen kurzen Augenblick dachte Ali daran, wie es wohl wäre, wenn er den Muezzin nicht angelogen hätte. Wenn dieses atmende, warme, lebendige Menschenkind mit den strahlend blauen Augen und dem reizendsten Lächeln der Welt tatsächlich sein Kind wäre. Seine eigene kleine Tochter.
    Das wäre wundervoll, dachte er und seufzte.
    »Was ist?«, fragte Michelle und sah ihn ernst an. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich dabei eine kleine Falte, die ihn an Beatrice erinnerte. Sie hatte ihn oft genauso angesehen.
    »Nichts«, antwortete Ali und strich dem Mädchen lächelnd über den Kopf. »Ich habe nur an etwas besonders Schönes gedacht.«
    Michelle schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein und lehnte sich wieder an ihn. Dann plötzlich, als wäre ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen, erhob sie sich wieder und suchte nach etwas. Schließlich reichte sie ihm voller Stolz ein zusammengerolltes Stück Pergament.
    »Das habe ich für dich gemalt.«
    »Vielen Dank«, sagte Ali und sah gerührt auf den Bogen hinunter, auf dem sich eine große Anzahl undefinierbare Kleckse, Striche und Kreise befand. Offensichtlich hatte Michelle irgendwo Tinte und Feder gefunden und damit herumexperimentiert. »Was soll das denn sein?«
    Voller Eifer setzte sich Michelle auf.
    »Das bist du. Und das bin ich«, sagte sie und deutete mit ihrem winzigen tintenbeschmierten Zeigefinger auf ein paar Kreise, die man mit einer großen Portion Einbildungskraft tatsächlich als Köpfe identifizieren konnte. Seltsame lange Fäden sprossen zu allen Seiten aus ihnen heraus. Ali vermutete, dass diese Fäden die Haare sein sollten. »Und das ist Saddin. Er passt auf uns auf.«
    Ali versetzte es einen Stich. Das klang, als würde Michelle den

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