Das Auge des Basilisken
hatte. Nun versuchte er wieder, sich zu erinnern. Es half nicht; er hatte niemals viel über die Angelegenheit nachgedacht, und das letzte Mal schien schon zu weit zurückzuliegen. Hatte er an einen Erfolg der Revolution geglaubt? Er hatte hin und wieder über die Angelegenheit nachgedacht und zuletzt beschlossen, sich ein Urteil darüber vorzubehalten und den Ereignissen ihren Lauf lassen. Oder war er der Grübelei bloß überdrüssig geworden? Er wußte es nicht mehr zu sagen.
Die Vormittagsstunden schleppten sich dahin. Alle paar Minuten benutzte jemand einen der Fäkalieneimer, und jedesmal mußten sie über ihn hinwegsteigen, um sie zu erreichen, wobei es selten ohne unbeabsichtigte Fußstöße abging. Es gab keine Gespräche. Draußen auf dem Korridor schritt ein Wächter auf und ab; jeder seiner Schritte auf den Steinplatten hallte von den Wänden wider. Theodor konnte hören, wie die Schritte sich zum anderen Ende entfernten, kehrtmachten und zurückkamen. Indem er die Schritte zählte, hätte er die Länge des Korridors berechnen können, aber diese Information war nicht der Mühe wert; sie war sinnlos. Wann würde das Mittagsmahl ausgegeben? Niemand konnte es wissen. Alle Uhren waren den Gefangenen zusammen mit den übrigen Gegenständen abgenommen worden, bevor man sie zu den Zellen gebracht hatte. Sie befanden sich zu tief unter dem Erdboden, um etwas von der Außenwelt zu hören.
Andere und schwierigere Fragen begannen sich in Theodors Bewußtsein zu drängen und seine widerwillige Aufmerksamkeit zu finden. Dies führte zu einem schwerfälligen inneren Dialog mit sich selbst.
War die Revolution eine gute Sache? Hatte ich recht, es zu glauben?
Gewiß. Die Engländer waren dessen beraubt, was ihnen von Rechts wegen gehörte. Also mußte die Rückgabe eine gute Sache sein.
Aber diese Selbstverwaltung hätte ihnen nach und nach übertragen werden müssen, um sie darin zu schulen. Wäre das nicht unmittelbar unserer erklärten Politik zuwidergelaufen, ihnen die ganze politische Macht auf einmal zurückzugeben?
Ja, das wird wohl so sein.
Warum war ich für diese Politik?
Augenblick … Weil Sevadian sie empfohlen hatte.
Verstand ich seine Argumente?
Ja. Wäre die Übergabe der Macht in kleinen Schritten über Jahre hin vorgesehen gewesen, so wäre nie etwas daraus geworden.
Warum nicht? Wie folgt das daraus?
Was ist die nächste Frage?
Was liegt mir an den Engländern? Genug, um mein Leben für sie aufs Spiel zu setzen?
Nein. Ich schloß mich der Revolution an, weil ich dafür kämpfen wollte, woran ich glaubte.
Woran glaube ich?
An Gerechtigkeit und Freiheit und so weiter.
Liegt mir soviel daran, daß ich mein Leben dafür aufs Spiel setzen würde?
Nein. Ich suchte das Abenteuer.
So sehr, daß ich dafür mein Leben aufs Spiel gesetzt hätte?
Nein. Ich glaubte nicht, daß es dazu kommen würde.
Das ist eine ziemlich armselige Geschichte.
Von welcher Art meine Motive auch waren, jedenfalls arbeitete ich dafür, woran ich glaubte.
Woran glaube ich?
Ich habe Gerechtigkeit und Freiheit erwähnt. Dann gibt es noch Wahrheit und Kunst und Anstand und Macht und Glück und Treue. All die Dinge, die wichtig sind.
Was heißt ›wichtig‹?
An diesem Punkt brach Theodor seinen inneren Dialog ab. Seine Zelle war die erste in der Reihe, was bedeutete, daß jemand, der die Treppe herunterkam, durch die Gitterstäbe zu sehen war. Und jemand war nun in Sicht gekommen, stand in gebeugter Haltung keine fünf Meter von ihm entfernt, während ein Wärter dem anderen ein Stück Papier zeigte. Es war Nina. Sie hatte eine schmutzige Bandage um den Kopf und sah unwohl, lustlos und verwirrt aus. Er wollte ihr zurufen, unterließ es aber. Er sagte sich, daß es keinen Zweck habe, obwohl ihm durchaus nicht klar war, was er damit meinte. Augenblicke später war sie fort. Er ließ den Kopf hängen. Er überlegte trübe, ob er Trauer nicht verspüren sollte, oder Reue, oder auch ein tröstliches Bewußtsein getaner Pflicht. Aber aus verschiedenen Gründen war ihm nichts dergleichen möglich. Alles, was er empfinden konnte, war eine gewisse Furcht – und dennoch eine große Gleichgültigkeit.
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ZWEIUNDZWANZIG
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Der kleine Friedhof war überfüllt. Eine Ehrenwache des Regiments säumte den Hauptweg und stand in Doppelreihen zu beiden Seiten des Grabes. Auf der Straße zog Schar 8 der Reiterschwadron, unter der Führung von Unteroffizier Ulmanis zum Friedhofseingang, wo sie auf ein Signal von
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