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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Deckung und zeigt sich ihm.
    Der Junge auf dem Stein betrachtet ihn neugierig. »Fängt man hier was?« fragt er.
    Hans Olofson schüttelt den Kopf und denkt, daß er dem Jungen eine knallen und ihn von dem Stein verjagen sollte. Aber er verliert den Faden, als der Adlige ihm unverwandt in die Augen sieht und keine Spur von Verlegenheit zeigt. Er holt die Angelschnur ein, reißt den Wurmstummel vom Haken und steht auf.
    »Wohnst du nicht in dem Holzhaus?« fragt er, und Hans Olofson nickt.
    Und als wäre es die natürlichste Sache der Welt, schlendern sie anschließend gemeinsam zurück. Hans Olofson bahnt die Spur, und der Adlige folgt ihm in ein paar Schritten Abstand. Hans Olofson gibt die Richtung an, er kennt die Pfade, Gräben, Steine. Sie streunen bis zu der Pontonbrücke, die zum Volkspark hinüberführt, und nehmen dann die Abkürzung über die große Heuwiese, bis sie die Kyrkogatan erreichen. Vor Nilssons Konditorei beobachten sie interessiert zwei Hunde, die sich paaren. Am Wasserturm zeigt Hans Olofson dem Jungen die Stelle, an der Rudin sich aus Protest gegen Oberarzt Torstensons Weigerung, ihn wegen seiner angeblichen Magenbeschwerden ins Krankenhaus einzuweisen, vor ein paar Jahren selbst in Brand gesteckt hat.
    Mit unverkennbarem Stolz versucht Hans Olofson die haarsträubendsten Begebenheiten wiederzugeben, die ihm aus der Geschichte des Städtchens bekannt sind. Rudin ist beileibe nicht der einzige Verrückte, der hier gelebt hat.
    Entschlossen steuert er die Kirche an und zeigt auf einen Hohlraum in der südlichen Kirchenmauer. Erst ein Jahr zuvor hatte einer der Kirchendiener in einem Anfall akuter Glaubensverwirrung an einem späten Abend im Januar versucht, die Kirche abzureißen. Mit Spitzhacke und Vorschlaghammer bearbeitete er tatkräftig das massive Gemäuer. Durch den Lärm wurde die Polizei auf den Plan gerufen, und Polizist Bergstrand mußte seinen Wintermantel zuknöpfen und sich in das Schneegestöber hinausbemühen, um den Mann zu verhaften.
    Hans Olofson erzählt, und der Adlige hört zu.
    Von diesem Tag an wächst eine Freundschaft zwischen dem ungleichen Paar, dem Adligen und dem Sohn des Holzfällers. Gemeinsam überwinden sie gewaltige Unterschiede, wenn auch nicht alle. Es bleibt immer ein Niemandsland, das sie nie gemeinsam betreten können, aber sie kommen einander so nahe, wie es ihnen überhaupt möglich ist.
    Sture hat ein eigenes Zimmer auf dem Dachboden des Gerichtsgebäudes, ein großes und helles Zimmer, in dem es von seltsamen Apparaturen, Karten, Bausätzen und Chemikalien nur so wimmelt. Spielsachen im eigentlichen Sinne gibt es nicht, nur zwei Flugzeugmodelle, die an der Decke hängen.
    Sture zeigt auf ein Bild an der Wand. Hans Olofson sieht einen bärtigen Mann, der ihn entfernt an die alten Porträts von Pfarrern in der Kirche erinnert. Sture erklärt jedoch, das Bild zeige Leonardo, und er werde eines Tages so sein wie Leonardo, etwas Neues erfinden und Dinge erschaffen, von denen die Menschen bisher nicht einmal ahnten, daß sie ihnen fehlten.
    Hans Olofson hört zu und versteht nicht alles, spürt aber die Leidenschaft in Stures Worten und erkennt seinen eigenen besessenen Traum wieder, die Vertäuungen des elenden Holzhauses zu kappen und es flußabwärts treiben zu lassen, zum Meer, das er noch nie gesehen hat.
    Das Zimmer auf dem Dachboden des Gerichtsgebäudes ist die Bühne ihres Mysterienspiels. Nur selten besucht Sture dagegen Hans Olofson. Die stickige Luft, der Geruch der Elchhunde, die nassen Wollsachen stoßen ihn ab.
    Natürlich sagt er Hans Olofson nichts davon, denn man hat ihn dazu erzogen, andere nicht unnötig zu verletzen. Er weiß, wohin er gehört, und ist froh, nicht in Hans Olofsons Welt leben zu müssen.
    Im Frühsommer brechen sie zu ihren ersten nächtlichen Streifzügen auf. Über eine ans Dachbodenfenster gelehnte Leiter verlässt Sture unbemerkt das Haus. Hans Olofson wiederum besticht die Elchhunde mit aufgesparten Knochen und schleicht zur Tür hinaus. In der Sommernacht streunen sie durch das schlafende Städtchen, und es ist ihr ganzer Stolz, daß sie niemals entdeckt werden. Anfangs noch vorsichtige Schatten, werden sie mit der Zeit immer tollkühner. Sie gleiten durch Hecken und schadhafte Zäune, lauschen an offenen Fenstern, heben sich gegenseitig auf die Schultern und pressen ihre Gesichter an die Fenster, hinter denen die wenigen nächtlichen Lampen der Stadt brennen. Sie sehen betrunkene Männer in dreckigen Unterhosen,

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