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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Ameisenhügel durch das offenstehende Küchenfenster. In einer anderen Nacht beschmierten sie die Johannisbeersträucher mit Firnis, und schließlich legten sie, zusammen mit ein paar Seiten aus einem verschmierten Herrenmagazin, die sie in einer Mülltonne gefunden hatten, eine Krähe mit abgehacktem Kopf in ihren Briefkasten. Zwei Nächte später kehrten sie mit einer von Hausmeister Nymans Heckenscheren zurück, um die Blumen der Nasenlosen zu massakrieren.
    Während Hans Olofson an der Hausecke Schmiere stand, griff Sture eines der gepflegten Blumenbeete an. Da öffnet sich die Haustür, und die Nasenlose steht in einem hellen Morgenrock vor ihnen und fragt ganz ruhig, ohne Trauer oder Zorn, warum sie tun, was sie da tun.
    Vorher haben sie sich stets einen Fluchtweg zurechtgelegt. Aber anstatt wie zwei gehetzte Hasen zu verschwinden, bleiben sie stehen, als würde ein Anblick sie gefangennehmen, dem sie sich nicht entziehen können.
    Ein Engel, denkt Hans Olofson viel später, viele Jahre nachdem er in der tropischen Nacht Afrikas verschwunden ist. Wie ein zur Erde hinabgestiegener Engel ist sie in seiner Erinnerung, nach ihrem Tod und seinem Aufbruch zu der Reise, auf der er den Traum verwirklichen wird, den er von ihr übernommen hat.
    In der Sommernacht steht die Nasenlose im Türrahmen, und ihr weißer Morgenrock leuchtet im schwachen Licht des Morgengrauens. Sie wartet auf eine Antwort, die niemals kommt.
    Daraufhin tritt sie zur Seite und bittet die beiden ins Haus. Ihre Geste ist unwiderstehlich. Mit gesenkten Köpfen schleichen sie an ihr vorbei in die blitzblanke Küche. Hans Olofson erkennt auf der Stelle den Geruch von Schmierseife, das rasende Schrubben seines Vaters, und für einen Moment kommt ihm der Gedanke, daß auch die Nasenlose sich durch schlaflose, gehetzte Nächte schrubbt.
    Ihre Sanftmut macht die Jungen schwach, wehrlos. Hätte das Loch an der Stelle, wo einmal ihre Nase saß, Feuer und Schwefel gespien, wäre es ihnen leichtergefallen, die Situation zu meistern. Ein Drache ist leichter zu besiegen als ein Engel.
    Der Geruch von Schmierseife vermischt sich mit dem der Traubenkirsche vor dem Küchenfenster. Leise surrt eine Wanduhr.
    Die Blicke der Marodeure sind starr auf den Linoleumfußboden gerichtet.
    In der Küche ist es so still, als säßen sie in einer Andacht. Vielleicht wendet sich die Nasenlose in dieser Stille ja an Hurra-Pelles Gott, um sich bei ihm Rat zu holen, wie sie die beiden havarierten Vandalen dazu bringen kann, ihr zu erklären, warum sie eines Morgens in eine Küche kam, in der es vor wütenden Ameisen nur so wimmelte.
    In den Köpfen der beiden Knappen herrscht völlige Leere. Die Gedankenbahnen hängen fest, als wären die Weichen eingefroren. Was gibt es da überhaupt zu erklären?
    Die auf sie einstürmende Lust zu quälen hatte keine erkennbaren Ursachen. Die Wurzeln des Bösen keimen im dunklen unterirdischen Grund, der dem Blick verborgen bleibt und sich erst recht nicht erklären läßt.
    Sie sitzen in der Küche der Nasenlosen, und als sie lange genug nichts gesagt haben, läßt die Frau sie gehen. Bis zuletzt hält sie die Jungen mit ihrer Sanftmut gefangen und bittet die beiden, wiederzukommen, sobald sie glauben, ihre Untaten erklären zu können.
    Die Begegnung mit der entstellten Frau bildet einen Wendepunkt. Noch oft werden sie in ihre Küche kommen und mit der Zeit entsteht zwischen den dreien große Vertrautheit. Hans Olofson wird in diesem Jahr dreizehn und Sture fünfzehn. Die beiden Jungen sind immer willkommen, wenn sie zu ihrem Haus kommen. Stillschweigend kommen sie überein, die geköpfte Krähe und die Ameisen mit keinem Wort zu erwähnen. Die stumme Entschuldigung ist vorgebracht, die Vergebung empfangen worden, und das Leben hält die andere Wange hin.
    Als erstes entdecken sie, daß die Nasenlose auch einen Namen hat, und zwar nicht irgendeinen: Sie heißt Janine, ein Name, der einen fremden, mystischen Duft verströmt.
    Sie hat einen Namen, eine Stimme, einen Körper, und sie ist keine dreißig Jahre alt. Noch ist sie jung. Wenn es ihnen gelingt, an dem klaffenden Loch unter ihren Augen vorbeizusehen, ahnen sie den schwachen Schimmer von Schönheit. Sie ahnen Herzschläge und geistreiche Gedanken, Gelüste und Träume. Und als wäre es das natürlichste auf der Welt, lotst sie die Jungen durch ihre Lebensgeschichte und läßt sie teilhaben an den schrecklichen Sekunden, in denen ihr klarwurde, daß der Chirurg ihre Nase weggeschnitten

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