Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
die immer noch über dem Gras flimmerte, trug er etwas Langärmliges. Ich schätzte ihn auf achtzehn, neunzehn, aber vielleicht war er auch jünger und nur sein Anzug ließ ihn erwachsener wirken.
„Hi“, grüßte ich höflich. Wie lange hatte er mich wohl schon beobachtet? Da mir sein Starren unangenehm wurde, schlang ich mir mein Handtuch um die Hüften. „Arbeitest du hier?“
Überrascht zuckte er zusammen, als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich ihn bemerken würde. Aber hallo? So gut hatte er sich nun auch wieder nicht versteckt. Ob er wohl der Gärtner war, der sich hier ausruhte? Nein, dafür war er nicht passend angezogen. Er trug ein unglaublich fleckiges Jackett oder so etwas Ähnliches, das mich an eine Schuluniform erinnerte, und darunter ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte, als wäre er unterwegs zu einer Feier, bei der er eine Rede halten musste.
„Hi“, sagte er nach einer Weile. Er wirkte immer noch äußerst erstaunt. Normalerweise planschten hier wohl keine Teenager im Pool herum.
„Ich bin Alicia“, stellte ich mich vor. „Ich gehöre zur Familie.“
Jetzt war er an der Reihe zu erklären, wer er war und was er hier tat.
„Ich weiß“, sagte er. „Du bist gestern angekommen.“
Ich war mittlerweile gewöhnt, dass mich alle wie das siebte Weltwunder anstarrten. Dass die Leute neugierig auf die Nichte von Vincent Riebeck waren, konnte ich ihnen nicht einmal verdenken. Normalerweise konnte ich einschätzen, ob jemand mir wohlgesinnt war oder bloß so tat. Wenn man reiche Eltern hat, lernt man, geheuchelte Freundlichkeit von echter zu unterscheiden. Doch diese dunklen Augen blieben unergründlich. Ich hatte keine Ahnung, was der Kerl über mich dachte, und das ärgerte mich aus irgendeinem Grund.
„Ja“, sagte ich eine Spur zu schroff. „Und? Ist das ein Verbrechen?“
Er lächelte vorsichtig, als wüsste er nicht so recht, wie das ging. Vielleicht geschah es in diesem Moment: Ich sah dieses unsichere Lächeln, und da wuchs auf meinem eigenen Gesicht ein ganz ähnliches Lächeln, wie ein Zwilling oder ein Spiegelbild - schüchtern und flirtend zugleich. Auf einmal wollte ich unbedingt, dass er mich nicht für dumm und verzogen hielt.
Oh Gott, dieses Gesicht! Er hatte große, ausdrucksvolle schwarze Augen mit langen Wimpern wie ein Mädchen, als hätte er Mascara benutzt. Er war nicht der hübscheste Junge, den ich je gesehen hatte, aber sein Gesicht war interessant und verleitete mich dazu, es ständig anschauen zu wollen, um dahinter zu kommen, was mich daran faszinierte. Mir wurde ganz flau im Magen. Zum Glück glich sein seltsames Benehmen seine Attraktivität aus, sonst hätte ich kein einziges Wort herausgebracht.
„Vielleicht“, erwiderte er. „Kommt darauf an, wer das Urteil spricht.“
Ach ja, ich hatte wissen wollen, ob es ein Verbrechen war, hier zu sein. Hm. Seltsame Antwort. Sollte das witzig sein?
„Und was machst du hier?“
„Rate doch mal“, meinte er, und diesmal hatte sein Lächeln etwas Spitzbübisches.
„Keine Ahnung.“ Ich setzte mich neben ihn ins Gras, so weit von ihm entfernt, dass ich ihn gut im Blick hatte. Mir wurde bewusst, dass ich nur meinen Badeanzug und ein Handtuch trug und dadurch ziemlich im Nachteil war. Rasch schnappte ich mir mein T-Shirt, in der Hoffnung, dass er sich nicht in Luft aufgelöst hatte, wenn mein Kopf wieder daraus auftauchte. Dieser rätselhafte Junge wirkte wie jemand, der nur allzu schnell verschwinden konnte. Ob ich ihn wohl nachher beim Essen treffen würde? „Du siehst aus, als wärst du aus einem Internat abgehauen. Einem Elite-Internat für Jungs der Oberschicht.“
„Leider daneben.“
„Schade. Ist das keine Schuluniform, was du da anhast? Deine Schuhe sind irgendwie gewöhnungsbedürftig.“ Es waren schwarze Lederschuhe, mit geschwungenen Einsätzen aus blauem Leder. Nicht unbedingt das, was man heutzutage so trägt. Abgesehen von der lächerlichen Krawatte.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich hab’s! Du bist mein Leibwächter. Onkel Vincent hat bloß vergessen, mir das zu sagen. Du passt auf, dass ich nicht ertrinke. Mein schrecklicher Schrei hat dich hergeführt, aber dann wolltest du mich nicht stören.“
„Wieder nein.“
Schade. Den Typen hätte ich gerne als Leibwächter gehabt. Dieser eindringliche dunkle Blick … mir stockte schon wieder der Atem. Nein, als ständiger Begleiter war er doch nicht geeignet, das würde mich unendlich nervös machen.
„Du bist Onkel
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