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Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)

Titel: Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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dich kennenzulernen, Rico.“
    Ein kühler Wind kam auf, mich fröstelte und die Härchen an meinen Armen stellten sich auf.
    „Ich bin gleich wieder da“, versprach ich, „ich zieh mir nur was über.“
    Ich hechtete zu meiner Liege und zog die Strickjacke aus meinen Sachen heraus. Als ich mich wieder umdrehte, war der Platz unter dem Baum leer.
    Ich hatte es ja gewusst, oder? Der Junge mit den Motten neigte genauso wie alle seine besonders attraktiven Geschlechtsgenossen dazu, mitten in einem Gespräch zu verschwinden. Das war mir schon öfter passiert. Ich war wohl einfach zu unscheinbar oder zu eigenartig, um sich länger mit mir zu befassen. Die meisten schützten wenigstens einen wichtigen Termin oder einen Anruf vor; mich einfach so stehenzulassen, fand ich schon derbe unhöflich.
    Allerdings war dieses Grundstück von einer Mauer eingefasst, einer Mauer mit Stacheldraht. Sehr weit konnte Rico nicht kommen. Mein Gefühl sagte mir, dass ich ihn heute Abend beim Essen wiedersehen würde. Ob er dann so tun würde, als hätte er mich noch nie gesehen?

    Mein Gefühl hatte mich leider getrogen. Onkel Vincent war anwesend, gut gelaunt und redselig, ebenso Sabine, aber kein Rico. Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Die ganze Mahlzeit über versuchte ich meine Frage so zu formulieren, dass die Erwachsenen nicht merkten, wie wichtig es mir damit war.
    Ist Rico nicht zum Essen eingeladen? Nein, zu plump.
    Ach, Onkel Vincent, ich hab da heute jemanden im Garten getroffen, wer ist das eigentlich? Nein, auch nicht viel besser.
    „Wie viele Angestellte hast du hier im Haus?“ Das klang unverfänglich. So merkte man wenigstens nicht, um wen es mir ging. „Wohnen die alle hier?“
    Onkel Vincent wunderte sich nicht über meine Neugier, das war schon mal gut. Bereitwillig erzählte er von der Haushälterin und den Putzkräften. Ich horchte auf, als er auf die beiden Gärtner zu sprechen kam.
    „Wie alt sind die denn?“
    „Thomas ist fünfzig, Andi Mitte dreißig. Warum?“
    „Ich weiß nicht“, sagte ich und versuchte mir schnell etwas Plausibles einfallen zu lassen. „Ich dachte, weil du hier so allein im Wald lebst, lässt du bestimmt ein paar muskelbepackte Kerle auf dem Anwesen herumspazieren. Es gibt ja nicht mal Hunde.“
    Onkel Vincent verzog das Gesicht. „Ich hasse Hunde. Und dieses Haus wird von einer Sicherheitsfirma betreut. Mach dir keine Gedanken, Alicia.“
    „Gibt es noch andere Gäste, außer mir?“
    „Nein, du bist die Einzige hier. Wieso?“
    Wer zum Kuckuck war dann Rico? Vielleicht der Sohn eines Angestellten? Hatte er vielleicht bloß seine Mutter abgeholt, die hier putzte? Aber welche Putzfrau würde ihren Sprössling in ein kostspieliges Internat schicken? Ich erkannte teure Klamotten, wenn ich sie sah. Vielleicht hatte ja der gute Onkel Vincent einen unehelichen Sohn, der heimlich auf dem Gelände herumschlich? Den er möglicherweise versteckte, weil … nun, weil … Mir fiel nur ein einziger Grund ein: um ihn zu schützen. Natürlich hätte jemand wie mein Onkel, der die ganze Meyrink-Geschichte hautnah miterlebt hatte, einen guten Grund gehabt, seine Kinder zu verstecken. Vor der Presse und vor der Öffentlichkeit. Aber doch nicht vor seiner Familie?
    Ach, meine Fantasie ging mit mir durch. Wenn Onkel Vincent einen Sohn gehabt hätte, warum hätte er dann mich einladen sollen? Dann hätte er ja einen Erben gehabt und wäre auch gar nicht mehr mein Erbonkel gewesen.
    Ich betrachtete ihn verstohlen und versuchte eine Ähnlichkeit mit Rico zu entdecken, fand aber nicht die geringste. Vincent hatte blassgraue Augen, und seine Haare waren, so wie auch meine in ungefärbtem Zustand, von einem verwaschenen Mittelblond. Mir fiel auf, dass er sich Strähnchen hatte machen lassen, die seine Haare heller wirken ließen, von der Sonne ausgeblichen, als käme er gerade von einer Weltumseglung auf seiner Yacht zurück.
    Gar kein Vergleich mit Ricos blassem Teint, mit diesen schwarzen Augen voller Glut, diesen pechschwarzen Haaren … Ich musste schlucken.
    „Geht es dir gut?“, fragte Sabine mitfühlend.
    „Bloß ein kleiner Sonnenbrand“, sagte ich und dachte: Tu doch nicht so, als wenn’s dich interessiert. „Ich glaube, ich hab’s beim Schwimmen etwas übertrieben.“
    „Hast du schon eine Freundin für deine Ferien hier organisiert?“, wollte Onkel Vincent wissen.
    Komisch, wie er das sagte. Als ob man sich Freunde organisieren könnte.
    „Ich ruf sie

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