Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
gleich an. Meine Freundin Tatjana, meine ich.“ In der Tat hatte ich heute schon ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, aber sie hatte ihr Handy nicht eingeschaltet. Tatjana war die vergesslichste Person auf diesem Planeten.
„Du hast keine Freundin, die Tatjana heißt“, sagte Onkel Vincent und wirkte plötzlich misstrauisch.
Sieh an. Der gute Onkel hatte doch Paranoia!
„Hast du mich überprüft?“, fragte ich entgeistert und versuchte, meine Brauen genauso finster zusammenzuziehen, wie mein Vater es immer tat. Das war wohl eine Riebecksche Spezialität, manchmal bekam ich es gar nicht so schlecht hin.
„Das musste ich doch“, sagte er. Er schämte sich nicht einmal. „Ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen, bevor ich dich eingeladen habe.“
„Dann solltest du wissen, dass ich sehr wohl eine Freundin habe, die Tatjana heißt“, sagte ich wütend. „Sie entspricht genau der Beschreibung, die du Tony, ich meine, dem Taxifahrer gegeben hast. Lange, blonde Haare, Modelfigur, Stubsnase.“
Wahrscheinlich hatte sein Detektiv sich ein bisschen vertan. Tatjana sah viel eher wie die Nichte eines Millionärs aus als ich.
„Ach. Die Arzttochter? Aber die heißt doch …“
„Marie-Sophie Pauline. Ich weiß. Aber bei ihren Freunden heißt sie nun mal Tatjana. Das ist ihr Künstlername, weil sie Model werden will. Niemals“, brach es aus mir heraus, „wird man ein Model, wenn man Marie-Sophie Pauline heißt!“
„Oh Gott“, sagte Sabine und machte wieder ihr angewidertes „Oh-diese-Kinder!“-Gesicht.
Aber Onkel Vincent lächelte, und in seinen Augen glomm ein belustigter Funke auf. „Na, am Namen soll es nicht scheitern. Lass sie ruhig herkommen. Wenn sie gut ist, kann sie ja mal für unsere Eiscreme-Kampagne vorsprechen. Da brauchen wir ein hübsches junges Mädchen.“
Ich versuchte nicht beleidigt zu sein, weil er mir das nicht vorgeschlagen hatte. Modeln war nicht gerade mein Traumjob, aber fragen hätte er ja ruhig können.
Immerhin war Onkel Vincent einfühlsam genug, um sofort zu erraten, was in mir vorging. „Ich werde dich nicht fotografieren lassen“, sagte er sanft. „Das liegt nicht an dir, Alicia. Aber … du weißt schon.“
Ja, ich wusste Bescheid. Mit unserer Familie sollte es nicht so enden wie mit den Meyrinks. Alles klar. Ich würde nie in der Zeitung zu sehen sein, nicht, wenn meine Eltern es irgendwie verhindern konnten. Niemand in unserem Umfeld wusste schließlich, dass wir mit dem großen Riebeck von „Riebeck & Meyrink“ verwandt waren. Wir waren bloß die Familie Vanderen. Es bestand überhaupt keine Verbindung zu dem Mann mit den Soßen und dem Wein und dem Käse. Nicht einmal Tatjana wusste Bescheid, obwohl ich oft genug kurz davor gewesen war, es ihr zu sagen. Top secret. Das war der Preis für eine halbwegs normale Kindheit. Damit ja niemand auf die Idee kam, mich zu entführen und zu ermorden.
„Was soll ich meiner Freundin denn sagen?“, fragte ich. „Wenn sie herkommt … ich meine, dann erfährt sie es doch.“
„Vertraust du ihr?“
„Natürlich. Meine Eltern haben es mir trotzdem streng verboten.“
„Sie wird deine Schulzeugnisse nicht an die Zeitung verkaufen oder deine Liebesbriefe ins Internet stellen?“ Sein Lächeln hatte etwas Trauriges, aber ohne deprimiert zu wirken, und ich dachte erleichtert: Er weiß, wie es in dieser Welt zugeht. Er weiß davon und hat trotzdem Spaß am Leben. Nicht so wie mein Vater, an dem die Schatten hängengeblieben sind. Es war also doch möglich, einigermaßen normal zu bleiben, ohne sich in die Angst hineinzusteigern.
„Tatjana ist absolut vertrauenswürdig“, sagte ich feierlich.
„Gut“, sagte er. „Es ist wichtig, Freunde zu haben. Ganz egal, wo du am Ende stehst, ganz oben oder ganz unten.“
Ich hatte das Gefühl, dass diese Aktion dazu diente, meine Freundin unter die Lupe zu nehmen. Ob sie würdig war, die Vertraute der Riebeck-Erbin zu sein. Oh Gott, jetzt dachte ich auch schon so wie meine Mutter. Die war auch immer der Meinung, dass niemand gut genug für uns war.
„Sobald sie eingetroffen ist, kann sie dir dann ja im Laden zur Seite stehen.“
„Im Laden … äh, wie meinst du das?“
„Frau Behr erwartet dich morgen“, erklärte Onkel Vincent und schien sich über meine Überraschung zu wundern. „Du wirst ihr dort helfen. Du weißt schon, an der Kasse stehen, Regale einräumen, was sie dir halt so zutraut.“
„Ich hab gar nicht gewusst, dass ich zum Arbeiten
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