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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Zärtlichkeiten mit Rührung.
    »Ein Liebespaar«, flüsterte sie mir zu. Manon blickte auf, sah mich aus ihren großen grauen Augen an und bestätigte, was ihre Mutter gleichsam beiseite gesprochen hatte: »Natürlich, wir sind ein Liebespaar.«
    Jedes Interesse an meiner Person war jetzt dahin. Die Eltern forschten bange und zugleich bemüht, nicht zuviel Interesse spüren zu lassen, nach den Plänen ihrer Tochter.
    »Wirst du nun hierbleiben?« fragte der Vater und »Wirst du nun morgen abend fahren?« die Mutter. Das schöne Mädchen sah lächelnd auf das Elternpaar, setzte sich zu ihrem Vater auf das lange Sopha und kuschelte sich in das Leder, als wolle es einen Winter dort verbringen.
    »Ich friere«, sagte sie sanft klagend und zog den Schal fester um sich herum.
    »Wirklich, es ist kalt«, sagte Gran. Sein Zorn regte sich. »Es ist seit heute morgen eiskalt in der Wohnung.«
    »Ich habe mit dem Hausmeister telephoniert«, sagte Frau Gran, von Kummer gezeichnet. Sie klagte sich an, daß sie einfach nicht bemerkt habe, wie kalt es in der Wohnung sei, weil sie sich so viel bewege; kein Vorwurf lag darin gegen Faulpelze, die sich nicht tummelten, nur Gewissenserforschung, wie sie es soweit habe kommen lassen, daß ihr Mann und ihre Tochter zu Hause, statt Schutz und Trost zu finden, unter der Herbstkälte litten. Wenn die Kälte Manon aus dem Haus trieb, dann wäre der Frieden, das ahnte Frau Gran, für eine Weile dahin. Sie ergriff die Hand ihres Mannes. Tatsächlich, die war kalt und steif.
    »Mir wird schlecht von dem vielen Tee«, sagte Manon, die noch keine Tasse getrunken hatte.
    In ihrer Gegenwart gerieten ihre Eltern aus dem wohlerprobten Konzept. Sie wollten der Tochter etwas bieten, was ihre Aufmerksamkeit fesselte. Hatte sie es sich auch so bequem gemacht, als wolle sie sich für einen Winterschlaf einmummeln: sogar ich täuschte mich nicht darüber, daß ihr Aufenthalt nur flüchtig sein würde. Dieses Sich-tief-und-entspannt-ins-Sopha-Sinkenlassen hatte schauspielerischen Charakter. Die dargestellte Gelöstheit sollte den kurzen Augenblicken, bei denen es bleiben würde, in der Erinnerung eine größere Dauer verleihen. Die Eltern sollten noch eine Weile von dem inneren Bild zehren, wie vertrauensvoll und kindlich, wie glücklich ihre Tochter in väterlicher und mütterlicher Gesellschaft geruht hatte. Herr Gran trachtete dennoch danach, Zeit zu gewinnen, und war sogar bereit, mir dafür eine Rolle zuzuweisen, die mir an sich nicht zugekommen wäre. Anstatt ihm ehrfürchtig zu lauschen, wie es vorgesehen war, sollte nun ich sprechen. Das Unbehagen, einem anderen Menschen zuhören zu müssen, der dazu noch vollständig bedeutungslos war, und die hoffnungsvolle Freude, Manon unterhalten und damit zum Verweilen überlistet zu sehen, lagen auf seinem mageren Gesicht im Streit. Doch Manon nahm alles, was ich auf wiederholte Aufforderung des Elternpaares immer weiter ausbreitete, mit einer Hingabe auf, als sei sie endlich an den Stoff geraten, der ihre Lebensrätsel löste. Ganz abwegig mochte das noch nicht einmal sein; für wohlhabende Leute ist das gesamte Hotelwesen von brennendem Interesse. Wenn das Wort Hotel fällt, werden diese Menschen in ihrem Innersten berührt, eine geheime Saite der Seele beginnt zu schwingen. Es ist, als ob an das Hotel alles delegiert sei, was ein ökonomisch abgesichertes Leben an außerordentlichen Zuständen noch erwarten darf. Und als Unterabteilung des Gesamtfaszinosums Hotel vermochte meine Sparte, das »besondere Hotel«, das »unwiederholbare Hotel«, das »individualistische Hotel«, das den Gästen mit dem Zimmerschlüssel ihren Anteil an einer bedeutenden, beruhigenderweise jedoch abgeschlossenen und damit unverbindlichen Geschichtsepoche verlieh, durchaus noch größere Aufmerksamkeit zu wecken.
    Manons Lauschen war einzigartig. Ihre Augen verdunkelten sich. Ihr lässiges Ruhen und Sich-Einkuscheln auf dem Sopha war nun nichts als Vorbereitung auf ein konzentriertes Lauschen. Immer noch fühlte ich die Peinlichkeit, hier vorgeführt zu werden wie ein Schuljunge, aber unter ihren Augen gab es kein Verweigern. Ich sprach nur für sie. Ihre Lippen waren halb geöffnet und glänzten. Es war, als nehme sie meine Worte nicht mit dem Gehör auf, sondern mit dem Mund. Herr Gran hatte indessen den Punkt erreicht, an dem das Unbehagen, zuhören zu müssen, in quälende Langeweile umschlug. Es half ihm auch nichts mehr, sich zu sagen, daß er diese Prüfung selbst gewollt

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