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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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jetzt aber, wo jemand sie in Zweifel zog, spürte sie, daß es auf deren Verteidigung ankam. Ihr Weltgebäude war bedroht, wenn die Erdbebenmessungen nicht dort unten stattfanden. Ich schwieg, und auch sie schwieg.
    »Es ist eine schöne Vorstellung, daß von hier aus Adern und Nerven in den gesamten übrigen Teil der Welt gehen«, sagte ich schließlich in versöhnlicher Geschmeidigkeit. »Daß man von hier aus, genau von hier aus, die gesamte übrige Welt am Wickel hat und verstehen kann ...«
    »Es ist nicht nur schön, es ist vor allem wahr«, sagte Manon, und ihre Augen blickten nun gleichfalls wieder sanft, wenngleich etwas zerstreut.
    Unten schob sich ein großer dunkelblauer Wagen vorsichtig in die stille Straße. Warum verbindet man mit Riesenautos Langsamkeit, raupenhaftes Gleiten? Der Wagen dort unten hatte sein Tempo gedrosselt, weil er halten wollte. Zielstrebig schob er sich in die Einfahrt des Granschen Hauses. Der Fahrer blieb im Wagen sitzen. Er wartete. Er war verabredet.
    »Ich muß leider los«, sagte Manon, die dem Auto ebenso wie ich mit den Augen gefolgt war. »Würden Sie mich hinunterbegleiten?« Es zeigte sich, daß sie fertig zum Ausgehen war, sie war von der Ankunft des Autos nicht überrascht. Die Aufzugskabine, in der wir uns gegenüberstanden, war eng. Sie war eigentlich zu eng für ihren Prachtkörper, wenn noch ein fremder Mann dazupassen sollte. Ich war in dieser Enge förmlich von Verlegenheit überwältigt. Soviel ich zuvor gesprochen hatte, sowenig sagte ich jetzt, und wenn ich zu Boden blicken wollte, sah ich ihre Brüste unter dem enganliegenden Pullover. Auch sie schwieg. Doch als ich mich vor der Haustür von ihr verabschieden wollte, fühlte ich plötzlich ihre weichen Lippen auf den meinen. Vor der dunkelblauen großen Limousine küßten wir uns lang, ohne uns dabei sonst zu berühren.
    »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie, als wir uns voneinander lösten, »dies ist etwas sonderbar, eigentlich nicht für Sie bestimmt, für den Mann im Auto aber eigentlich auch nicht – nicht böse sein.« Sie ging um den Wagen herum und stieg ein, nicht ohne mir noch einmal zuzulächeln. Der Mann hinter den getönten Scheiben war sehr braungebrannt. Ein goldenes Armband und Goldknöpfe an seiner Jacke blitzten durch das grüne Glas. Stoisch wartete er unsere Verabschiedung ab. Ich hätte sie nicht in solcher Gesellschaft vermutet.

2.
»Hier müßte man einen Film drehen«
    Wenn ich mir als Schüler vorstellte, eines Tages Architekt zu sein, hatte ich natürlich nicht im Sinn, in einem Riesenbüro jahraus, jahrein Aufzugsschächte von mittleren Hochhäusern zu zeichnen, nein, es sollte viel höher hinaus mit mir gehen, nicht nur Paläste, Dome, Museen wollte ich entwerfen, sondern gleich ganze Städte, zu denen die Paläste nur Zellbausteine bildeten. Einzelgebäude sah ich niemals deutlich vor mir. So groß und mächtig sie auch sein mochten, sie sollten nur Werkstoff für das Ganze werden. Man erinnert sich der Städte im Hintergrund von Poussin-Landschaften, ein Geschiebe trigonometrischer Körper, das man sich zur Verdeutlichung in der Küche mit Konservendosen und Milchtüten gut veranschaulichen kann, und ich bin überzeugt, daß gewisse Stillebenmaler, die Flaschen und Büchsen hin und her rückten, dabei eigentlich an Städte dachten. Morandi bemalte die Flaschen und Dosen aus seiner unerschöpflichen Rumpelkammer mit grauem und blauem Lack, um ihnen das Flaschen- und Dosenhafte zu nehmen und sie zu reinen Körpern zu machen, und solche reinen Körper kann man sich mühelos in jede Größe übersetzen. Aber das Wichtigste war mir doch, daß die Bauten meiner Phantasiestadt, die eines Tages eine reale werden würde, sich auf engstem Raum zusammendrängten. Durch die Lage auf einer Landzunge oder Insel, an einer Schlucht, an einer Felswand, in einer Flußschleife, von Stadtmauern umgeben, wie sie unter den politisch allerdings traurigen Bedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts durchaus nicht verschwunden waren, sollte der Stadtraum kostbar sein, ein Geschachtel der Bauwerke erzwingen und alle meine Pyramiden, Zylinder, Würfel und halbkugelförmigen Kuppeln zu einem Gesamtgebilde verschmelzen, aus dem keine Einzelteile mehr zu lösen waren. Die Normalvoraussetzung moderner Architekten, jener immense Rasenplatz nämlich, auf dem das Bauwerk wie ein gelandetes Raumschiff weniger steht als parkt, war mir ein Graus. Und wo war den Stadtplanern, die ihren Größenwahn auf nur vom Horizont

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