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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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habe und sie um so leichter ertragen könne, als der gewünschte Erfolg nicht ausblieb. In seinen nur mühsam beweglichen Körper fuhr der Ungeduld-Dämon und ließ ihn knacken und zucken. Frau Gran beugte sich zu ihm. Ich meinte, sie von den angekündigten Tropfen flüstern zu hören, aber nun nicht mehr als mir bestimmtes Signal zum schleunigen Aufbruch, sondern vielmehr um Gran selbst das Ausbrechen aus dem Konversationscirculus möglich zu machen. Hustend und grummelnd und seine baldige Rückkehr verheißend, tappte er hinweg, von seiner Frau behutsam geführt.
    »Waren Sie mit meinen Eltern auf der Dachterrasse?« fragte Manon unversehens. Sowie ihre Eltern den Salon verlassen hatten, war ihre Hingerissenheit beendet. Sie stand mit einer einzigen schlangenhaften Bewegung auf, als gelte es, daran zu erinnern, daß selbst der hinfälligste Mensch eigentlich als Idealwesen gedacht worden sei. Die Dachterrasse war weit und zugig. In Betonkübeln wuchsen japanische Fichten, die in ihrer Geduckt- und Verdrehtheit aussahen, als habe nie abreißender Wind ihre Gestalt verformt. Nahm auf den riesigen Sonnensesseln aus weißem Segeltuch auch einmal jemand Platz? Die Bodenplatten wackelten. Die Semiramis-Phantasie, die diese weit hingebreitete Dachterrasse einst hervorgebracht hatte, war verblaßt. Der Himmel wölbte sich weiß-grau über das dunkelgrüne Kastaniengewoge tief zu unseren Füßen.
    »Früher kamen hier die schönsten Vögel«, sagte Manon, »aber die Raben haben alle vertrieben. Sie kommen in Schwärmen aus dem Park mit ihren blauen Schnäbeln und ihrem Krächzen und sitzen dann hier groß und feist und sind unheimlich.«
    Ich ließ mich verleiten, weiter zu dozieren, obwohl dies Kapitel doch glücklich hätte abgeschlossen sein können, seit die Alten mich nicht mehr antrieben. Das seien keine Raben, sagte ich, das seien Krähen, und zwar Saatkrähen. Raben seien größer.
    »Diese schwarzen Vögel sind aber auch groß«, sagte Manon. Ja, aber Raben seien riesengroß – keine sehr gescheite Bemerkung, denn ich wußte ja nicht, wie groß Manons Vögel gewesen waren. Die Wahrscheinlichkeit war auf meiner Seite, aber warum sollte sie keine Raben gesehen haben? Die einsamsten und wildesten Tiere fanden inzwischen den Weg in die Großstadt. Was nicht ausgerottet war, machte seinen Frieden mit der Zivilisation und versuchte sich in der Kohabitation. Zwischen den Kastanienwogen lugte zwei Parallelstraßen weiter das Schieferdach einer hübschen Villa hervor, eines florentinischen Hauses, eines Miniaturpalazzos aus den Jahrzehnten der Renaissance-Verherrlichung. Jetzt war das meteorologische Institut darin untergebracht. Auf dem Belvedere ragte ein Windmesser in die Luft, ein Kreuz mit vier Halbkugeln, die den Wind wie ein Konditor sein Schokoladeneis in Kugellöffeln maßen. Die Terrasse wurde von einem Geländer aus dicken Glasscheiben begrenzt, nicht angenehm für Schwindlige, unter meinen Zehenspitzen gähnte der Abgrund.
    »Dies Institut steht auf einer Ader, die es mit allen Erdbeben der Welt verbindet«, sagte Manon, als ich auf die sich träge drehenden Windhalbkugeln zeigte. »Wenn irgendwo die Erde bebt, zeichnen sie es hier auf. Wenn in der Türkei oder in Sizilien oder in Pakistan die Häuser einstürzen, dann zuckt es hier immer noch schwach – es gibt auch hier Erdbeben, aber schwache«, das alles klang aus dem Mund dieser frühen Schönheit seltsam naiv, schulmädchenhaft und auswendiggelernt. Nein, nein, widersprach ich in törichter Beflissenheit, ich wisse schon, was sie meine: Im Schaukasten neben dem Eingang des Instituts würden zwar tatsächlich alle Erdbeben der ganzen Welt, wie stark oder schwach auch immer, angeschlagen, aber doch nicht, weil sie gerade in diesem Haus meßbar seien. Die Leute in dem Haus dort unten erführen von den Erdbeben auf demselben Weg wie wir: durch das Fernsehen. Mir war, als höre sie das nicht gern. Doch, doch, sie wisse es genau, das mit der Ader, es gebe diese Ader. Sie wisse von dieser Ader seit langem, sie wohne schließlich hier und habe während eines Abendessens einmal neben dem Direktor des Instituts gesessen, der dasselbe gesagt habe – nein, kein Zweifel, sie mäßen dort alles unmittelbar bis China und Japan. Sie hatte sich in dieser Vorstellung fest eingerichtet. Vor unserer Unterhaltung waren ihr die Erdbeben und die Seismographen vielleicht gar nicht so wichtig gewesen, sie hatte sie hingenommen wie alle anderen Wunder, die ihr Leben umgaben,

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