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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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keinen Anlaß, uns zu beklagen. Es gab in derselben Nacht noch einen Zug, und wir fanden sogar noch zwei Sitzplätze in einem von Schläfern besetzten Abteil erster Klasse. In Prüfungen wie der meinen genügt aber ein Strohhalm, um einen Heuwagen umzuwerfen, und mit leicht entzündlichem Stroh und Heu war der Wagen meines Geistes wahrhaft hoch beladen. Bei der nächsten Bahnstation ging ein Junge durch die Abteile, der einen Aluminiumkessel mit heißem Tee schleppte. Der Kessel war möglicherweise so schwer wie das Bürschchen, das hinkte und ein ramponiertes Auge hatte. Ich bestellte Tee für Iris und mich, den der Junge eilfertig ausschenkte, doch als er den Preis nannte, verlor ich plötzlich die Nerven. Zwei Rupien koste ein Tee und nicht vier, erklärte ich mit wachsender Schärfe und wurde nur noch gereizter, als der Junge betrübt auf seinen vier Rupien bestand. Nein, das war jetzt unmöglich. Ich war der Kenner. Ich kannte die Preise, ich ließ mich nicht düpieren. Diese Inder glaubten, einem Europäer, der sich ihnen voll Liebe und Respekt näherte, wirklich alles zumuten zu dürfen.
    Traurig goß der Kleine den Tee in den großen Kessel zurück. Iris sah mich stirnrunzelnd von der Seite an, wandte sich dann ab und blickte aus dem Fenster ins Schwarze.

Nachtrag
    Haben meine schlimmen Wünsche Manon erreicht? Ich kann es nicht sagen, denn ich habe sie nicht wiedergesehen, bis auf einmal, möglicherweise. Anna Pfeiff war im letzten Sommer fünf Jahre bei mir und durfte sich ein Jubiläumsgeschenk wünschen. Sie konnte sich lange nicht entscheiden, dann wurden uns Karten für die Salzburger Festspiele angeboten. Und so saß ich denn an einem unerträglich schwülen Sommerabend mit Anna in der »Zauberflöte«, einer Inszenierung des Meisters, wie sich herausstellte, und weil ich weiß, wie sehr Anna Pfeiff den Meister verehrt, vermag ich an ihre Überraschung und Unschuld nicht ganz zu glauben. War es etwa Zufall, daß sie auch einen großen seidenen Schal aus dem Museumsladen trug? Wir gehörten für jeden erkennbar zur Gemeinde. Der Meister hatte sich der Oper in vorhersehbarer Manier angenommen, oder einen Assistenten wirken lassen. Sarastro und die Königin der Nacht irrten durch prallbunte Aborigines-Spiralen wie auf Annas Schal, die Prüfungen des Tamino waren aus der Voodoo-Sphäre von Haiti genommen. Anna schwamm in Begeisterung, das Geschenk war geglückt. Aber als es nach der Pause wieder dunkel wurde, drängte sich fünf Reihen vor uns noch ein Paar zu seinen in der Mitte gelegenen Plätzen. Ein Wort von Bernini behauptet, es gebe bei allen Ähnlichkeiten zwischen den Menschen doch nur eine einzige, unwiederholbare Art, wie einem der Kopf auf den Schultern sitze. Ich brauchte nur ihre Silhouette zu sehen. Manons Kopf jedenfalls saß auf Hals und Schultern, wie ich es in hundert Jahren nicht vergessen werde. Von den australisch-haitianischen Riten auf der Bühne bekam ich nichts mehr mit. Ungeduldig wartete ich auf den Fall des Vorhangs. Aber man weiß, wie das ist: Beim Applaus standen die Leute vor mir auf und versperrten mir den Blick, und später habe ich sie im Gedränge nicht wiedergefunden.

 
    Über den Autor
     
    Martin Mosebach
    Martin Mosebach, 1951 geboren, lebt in Frankfurt am Main. Er wurde u.a. mit dem Heimito von Doderer-Preis, dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie, dem Kleist-Preis und 2007 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Mond und das Mädchen (Roman, 2007) und Stadt der wilden Hunde (Nachrichten aus dem alltäglichen Indien, 2008).
     
    Auszeichnungen
     
    •     2007 Georg-Büchner-Preis
    •     2006 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
    •     2005 Kranichsteiner Literaturpreis
    •     2004 Stipendium Künstlerhaus Lucas
    •     2004 Warburg Stiftungs-Professur
    •     2004 Blauer Salon-Preis des Frankfurter Literaturhauses
    •     2003 Spycher-Literaturpreis
    •     2002 Heinrich-von-Kleist-Preis
    •     2001 Stipendium Schloß Wiepersdorf
    •     1999 Heimito-von-Doderer-Preis
    •     1984 Preis der Neuen Literarischen Gesellschaft Hamburg
    •     1980 Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung
     
    Bibliographie
     
    Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
    2005 Das Beben. Roman
    2006 Schöne Literatur. Essays
    2007 Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. (Erweiterte Neuausgabe)
    2007 Der Mond und das

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