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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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kleinen Schritten ließen sie trotz ihres glänzend konservierten Zustandes furchtsam und ältlich erscheinen. Wenn sie ihn begleitete und eben längst nicht mehr an seinem Arm geführt wurde, sondern selbst zu führen hatte, hielt sie nach Stufen und Teppichfalten Ausschau, die ihn stürzen lassen könnten. Sorgenvoll waren ihre Augenbrauen zusammengezogen, und ihr Blick flehte gleichsam die ganze Welt an, Herrn Gran mit Katastrophennachrichten zu verschonen. Ihr Blond war alterslos, unversehrt wie das Haar einer Jungfrau, die nach Jahrhunderten im Sarg völlig unverwest aufgefunden wird. Der leichte Schritt, mit dem sie mir entgegenkam, hallte im metallenen Treppenhaus. Sie ging mir voraus, bis sich das lichte Raumdurcheinander in eine langgestreckte Halle ordnete, mit einer asymmetrisch geformten Feuerstelle aus unebenen Schieferplatten. Hier befand sich das Sanktuarium für eine phallische Gottheit mit mageren Kinderärmchen, Turmschädel und Kugelbauch aus ausgedörrtem Holz, das vielleicht länger unter Wasser gelegen hatte. Auf einem Schiefertisch war ein Teetablett aus altem Silber, mit großer Teekanne und schönen Tassen aus dem 18. Jahrhundert vorbereitet. Frau Gran setzte sich auf die Kante eines vier Meter langen Ledersophas, ein zartgliedriger Vogel, der nichts braucht als seine Stange, um sich festzuklammern, und schenkte den Tee mit großer Vorsicht ein. Er war rotgolden wie alter Cognac. In diesen Räumen wirkten Farben, wenn sie denn überhaupt auftraten, um so stärker.
    »Mein Mann hat sich heute morgen aufgeregt«, sagte sie gedämpft, als wolle sie vermeiden, daß Unbefugte mithörten, und tatsächlich gab es in dieser Wohnung keine Türen.
    »Unsere Tochter ist der Augapfel meines Mannes. Er kann sich nicht daran gewöhnen, daß sie nun schon längst kein kleines Mädchen mehr ist und ihre eigenen Wege geht. Deshalb hat es heute Vormittag eine kleine Auseinandersetzung gegeben – in Liebe natürlich, meine Tochter liebt ihren Vater womöglich noch mehr als er sie, aber sie hat seinen Kopf geerbt, und von einem gewissen Alter an kann auch Liebe sehr anstrengend sein.« Daß Herr Gran mich empfangen wolle, sei gut und schön, für mich natürlich ein kostbares Erlebnis, dessen mich gewiß niemand berauben wolle, aber sie sehe ihre Aufgabe vor allem darin, zu bremsen, wo Gran seine Kräfte nicht ganz richtig einschätze. Auch ich wünschte doch selbstverständlich nicht, daß Gran nach anregendem – allzu anregendem – Gespräch mit mir später noch stundenlang vor Husten nicht einschlafen könne.
    Ich sah diese Worte als den höflichen, aber bestimmten Versuch, mich zum sofortigen Aufbruch zu bewegen. In Grans kritischem Zustand durfte nichts riskiert werden, was das kostbare Lebensrestchen bedroht hätte.
    »Nein, wenn Sie jetzt gingen, machten Sie alles nur schlimmer«, sagte sie beschwörend und legte mir kräftig die kühlen Finger auf die Hand. »Herr Gran würde nicht verstehen, was geschehen ist, und mich beschuldigen, Sie vertrieben zu haben. Und dann wäre der Husten erst recht unvermeidlich.« Sie bat mich um meine Mitwirkung bei einer »kleinen Verschwörung«. Sie werde das Gespräch im Auge behalten, und wenn sie bemerke, daß Herr Gran sich anstrenge, werde sie ihn fragen, ob er seine Tropfen schon genommen habe – und auf dieses Zeichen hin könne ich mich mühelos verabschieden, denn das Tropfeneinnehmen sei stets eine Ruptur, in der Herr Gran die Kraft nicht finden werde, seine Medikamente zu sich zu nehmen und gleichzeitig den Gast am Gehen zu hindern.
    Fern rollte dunkler Husten, dem es wohl gelang, den Schleim in den Bronchien zu lockern. Unhörbar waren Grans Schritte. Er schob sich auf englischen Samtpumps voran, das dicke gelbe Malakkarohr, auf das er sich stützte, war mit einem Gummipfropfen ausgerüstet. Bei Gran mischte sich Hinfälligkeit mit Geputztheit. Sein Tweedanzug war weit und von individuellem, gemeinsam mit dem Schneider erarbeitetem Schnitt, die erdbeerfarbene Krawatte sandte Lebenslust- und Frühlingshauch-Signale aus, aber die Gesichtshaut war papierdünn, und die verbliebenen Härchen lagen wie mit der Säuglingsbürste nach dem Bad geglättet auf dem großen Schädel. Den nachhaltigsten Eindruck in seinem Gesicht machte die Nase, die nach scharfem Einschnitt an der Wurzel immer noch recht fleischig vorsprang, seinem Geist entsprechend, der stets etwas Vorandrängendes, sich Einmischendes besessen hatte. Ägyptische Skarabäen hielten die Manschetten

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