Das befreite Wort
Bundespräsidenten bewarb und vor allem deshalb überzeugen konnte, weil sich sein Verhalten mehr als fünfzig Jahre lang konsequent an seinem Leitwert »Freiheit« ausrichtete. Und weil er als Pastor von der Legitimität rhetorischer Wirkung überzeugt ist, sofern sie sich dort entfaltet, wo ein Redner mit dem eigenen Herzen die Herzen anderer Menschen berührt. Seine Mit-Menschlichkeit passt hervorragend zur Rolle eines deutschen Präsidenten, weil es in diesem Amt vor allem um Ausgleich und Verbindung von Menschen geht.
und es gilt für viele andere von Shakespeares Dramenfigur des Marc Anton mit seiner berühmten Rede zu Cäsars Begräbnis bis hin zu Mahatma Gandhi oder Richard von Weizsäcker. 97
› Hinweis
Sie alle haben – bewusst oder unbewusst – eines verstanden: Die Anerkennung der eigenen »Authentizität«, des »wahren und ganzen Ich« durch ein mitmenschliches Gegenüber ist eine zumeist unstillbare Sehnsucht. Selbst erfolgreichste Schauspieler, die mit viel Applaus bedacht werden, fragen deshalb doch immer wieder, ob sie »gefallen, in welchem Grade [sie] gefallen« haben. Denn wer diese Anerkennung in seinen ersten Lebensjahren nicht oder nicht ausreichend erfahren hat (sehr viele Menschen also), wird sich nur schwer jemals sicher in ihrem Besitze wissen. Und es ist davon auszugehen, dass er sie – so sehr er dies auch versuchen mag – gerade nicht im professionellen Zusammenhang seiner öffentlichen Selbstdarstellung erlangen wird.
Denn man würde die Beziehung zu einem Publikum oder gar »der Öffentlichkeit« zweifellos überfordern, wollte man von ihnen diese Anerkennung – und gar noch auf Dauer – erhalten. Manch einem gelingt es schneller, diese Erkenntnis zu akzeptieren. Andere werden bei dieser Einsicht länger und mit einem Gefühl der Trauer verweilen. Wer es jedoch schafft, anstatt vergeblich auf die Anerkennung von außen zu pochen, sich selbst auch mit den bislang nicht anerkannten Teilen seines Ichs zu versöhnen (also »Integrität« herzustellen) und diese Teile gut kennenzulernen, der hat beste Aussichten, die ihm zukommende Rolle mit seinen Qualitäten auszustatten – und so eine unverwechselbare, individuelle Rednerpersönlichkeit auszubilden.
Barack Obama und Joachim Gauck: Zwei Persönlichkeiten in der Rolle des Kandidaten für das Präsidentenamt
»Nicht mehr« und »noch nicht« – das ist der Moment der Transformation. Aus dem, was war, wird etwas Neues. Dabei ist das Alte noch gut zu erkennen, während das Neue schon Kontur gewinnt. Ein Augenblick der Entwicklung und Verwandlung, den es in der Natur immer wieder zu bewundern gibt, der sich aber auch in den Biografien der Menschen, die in dieser Hinsicht ebenfalls Teil der allgemeinen Natur sind, häufig ereignet.
Im professionellen Leben vieler Menschen sind solche grundlegenden Transformationen nicht selten mit dem Wechsel des Berufs oder einer beruflichen Position verbunden. Wer beispielsweise vom Sachbearbeiter oder Projektmanager zum Abteilungsleiter aufsteigt, kennt diesen Moment, in dem klar wird: Vieles, was in der alten Welt seinen Platz und sein gutes Recht hatte, wird sich mit der neuen Position verändern. Das beginnt bei Äußerlichkeiten, die zur Rolle 98
› Hinweis
gehören. Konnte der Sachbearbeiter noch in legerer Kleidung im Büro erscheinen, muss der Abteilungsleiter die Krawatte mindestens griffbereit haben. Sie gehört in seiner neuen Rolle zum »Kostüm«, denn möglicherweise muss er zu Besprechungen mit der Geschäftsführung erscheinen oder sein Unternehmen gegenüber externen Gästen repräsentieren. Das verlangt einen neuen Auftritt, aber auch eine veränderte Haltung. Gestern noch arbeitete der Sachbearbeiter »für« das Unternehmen XY. Das heißt: Das Unternehmen war für ihn nicht unbedingt Teil seiner Identität. Diese Haltung soll er als Führungskraft ändern. Die Unternehmensleitung erwartet von ihm echte Anteilnahme am Schicksal der Firma. Die Werte der Marke sollen auch Teil seines persönlichen Werte-Universums werden. Ganz praktisch gilt es dann, die weiter oben beschriebene »Schnittmenge« aus persönlichem Ich und Rollen-Ich zu bilden – nicht nur , aber besonders im Blick auf mögliche Redeauftritte (z. B. die Antrittsrede beim neuen oder alten Team), denn in solchen expliziten Selbstdarstellungen erleben die anderen »den Neuen« oder »die Neue« leib- und wahrhaftig. Und sie erhalten aus diesem Erleben einen Eindruck, der ganz besonders intensiv und von
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