Das befreite Wort
eine Passage in der Begrüßung überzeugend zu präsentieren. Es ging darum, das Publikum an einem besonderen Ort willkommen zu heißen – an Bord eines Passagierschiffes – und diese Besonderheit auch deutlich herauszustellen.
In seinem Redetext war deshalb eine Reihe von Superlativen vorgesehen: »Ich begrüße Sie an Bord des größten, beliebtesten und wohl auch schönsten Kreuzfahrtschiffes im Mittelmeer.« Die Adjektive klangen, wenn er sie vortrug, nicht nur holprig. So wie er sie aussprach, hätte man denken können, es handle sich um Übertreibungen. Natürlich war der Redner selbst mit seiner »Performance« höchst unzufrieden und fühlte sich unwohl. Anwesende Rhetoriktrainer versuchten, das Problem zu lösen, indem sie dem Redner die richtige Aussprache vormachten und ihm erklärten, welche Silben zu betonen seien und welche nicht. Aber auch nach mehrmaliger Wiederholung blieb die Passage holprig und unglaubwürdig.
Ein anderer Mitarbeiter schließlich, für Training und Coaching gar nicht zuständig, ließ nebenbei den Hinweis fallen: »Das stimmt übrigens alles so. Wir haben das recherchiert: Es gibt kein größeres Schiff. Es ist auch das bekannteste und kein anderes wird mehr gebucht.« Der Redner – Sohn eines evangelischen Pfarrers übrigens – hörte interessiert zu, und als er die Passage nochmals übte, klappte es plötzlich: Kein Holpern, kein Eindruck von Übertreibung mehr!
Ohne es zu wissen, hatte der Mitarbeiter mit seinem Hinweis alles richtig gemacht: Er hat den Redner von seinem schlechten Gewissen befreit. Denn der kam sich vorher wie ein Marktschreier vor, wie ein unseriöser Verkäufer, der mit übertriebenen oder gar falschen Versprechungen Kunden gewinnen will. Mit anderen Worten: Er schämte sich für die Figur, die er meinte, dort oben darstellen zu sollen. Er schämte sich vor seinem eigenen Anspruch, vor seinen eigenen Werten und denen seiner Familie. Sie sagten ihm: »So etwas gehört sich nicht.« Und: »Ich will nicht lügen.« Es waren Kernüberzeugungen seiner Persönlichkeit, die ihm eine glaubwürdige Präsentation so lange unmöglich machten, wie er die Superlative für Marketing-Übertreibungen hielt. Erst als der Redeinhalt in Übereinstimmung mit seinen Wertüberzeugungen gebracht war, wurde auch die Präsentation überzeugend. Und zwar: ganz von selbst!
Das ist die Botschaft dieses Buches: Bauen Sie auf Ihre Integrität und hören Sie auf Ihre innere Stimme. Sie weist am zuverlässigsten den Weg zum erfolgreichen Redeauftritt. Denn wer den Impulsen der eigenen Persönlichkeit folgt und auch die Widerstände ernst nimmt, die er dort antrifft, der ist auf dem besten Weg zu echten Begegnungen: Begegnungen mit sich selbst und mit den Menschen, die es für die eigene Sache zu gewinnen gilt.
Eine Pressekonferenz im September 2005
und andere »Kleinigkeiten«
Oder: Wie es ist und warum es anders sein sollte
Der Mann wirkt nicht unsympathisch. Ganz im Gegenteil, mit seinem ergrauten Haupt und den freundlich dreinblickenden Augen hinter den fein silbern umrandeten Brillengläsern entscheidet er jeden Gebrauchtwagenverkäufer-Test für sich. »Würden Sie diesem Mann ein schon betagtes Modell abkaufen? Glauben Sie ihm, wenn er versichert, dass damit alles in Ordnung ist und dass Sie sicher noch viele Jahre Freude haben werden an Ihrem Kauf?« Klare Antwort: Ja, sofort!
Klaus Zumwinkel ist an jenem Tag, bei jener Pressekonferenz am 19. September 2005, noch nicht der landesweit bekannte Steuerhinterzieher. 1
› Hinweis
Er ist der durch und durch solide Chef der ebenso soliden Deutschen Post AG – ein wenig zu sachlich möglicherweise, aber eben das soll sich ja ändern. Und vieles hat sich schon geändert bis zu diesem Montag im Jahre 2005. Die gelbe Marke mit dem schwarzen Horn ist unter Zumwinkels Leitung seit Jahren dabei, sich vom verstaubten Staatsbetrieb – dem Inbegriff deutscher Beamtenpiefigkeit – zu einem modernen und globalen Dienstleistungsunternehmen zu entwickeln.
Der Postchef, mit Erfahrung unter anderem auch als Berater bei McKinsey, hat damals bereits weite Teile des Geschäfts privatisiert, umstrukturiert und auf eine neue Grundlage gestellt. Im Jahr 2005 hat die durchschnittliche Postfiliale mit der »Schalterhalle« von einst nicht mehr viel gemein. Die rund 400.000 Brief- und Paketexperten befinden sich mitten in einem Kulturwandel, einem der größten sogenannten Change-Management-Projekte der deutschen und sogar europäischen
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