Das befreite Wort
dementsprechend die Verantwortung für die Folgen zu verteilen ist: »[…] tausend betrogene Augen [erblickten im Spiel des Darstellers] die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit« 91
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Zum anderen und vor allem aber kann heutigen Rednern die Aufklärung des gängigen Irrtums über die Schauspielerei aus ihrer Zwickmühle heraushelfen. Denn in Wirklichkeit funktioniert die Schaupielkunst erheblich anders, als es sich viele vorstellen, die sich nie näher damit befasst haben. Eine der meistdiskutierten Grundfragen in der Schauspielausbildung etwa – sozusagen die theatertheoretische Variante des Problems von Sein und Schein – lautet: Soll ein Schauspieler bei seinem Auftritt die Affekte einer Figur »nur spielen« oder soll er sie »authentisch haben« und zeigen? 92
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Beide Schulen haben ihre berühmten Vertreter und Befürworter und sind in der Praxis zu überzeugenden Ergebnissen gelangt, wenngleich die in der Nachfolge des sogenannten epischen Theaters nach Bertolt Brecht entwickelte Richtung des distanzierten Rollenspiels sich insbesondere auf dem Theater durchgesetzt hat.
Wichtig aber ist auch dieser Schule die »rezeptionsästhetische« Zielsetzung der Schauspielkunst: Die Affekte, die eine Dramenfigur bewegen, sollen vor allem im Publikum ausgelöst werden. Wenn der verzweifelte König Lear an seiner Einsamkeit irre zu werden droht, dann geht es darum, dass auch die Zuschauer Gefühle von Verzweiflung und Einsamkeit erleben. Wie aber ruft man sie hervor? Es geht, so die Grundthese dieser Schule, nicht darum, dass der Darsteller selbst in diesem Moment seiner Darstellung »authentisch« verzweifelt ist . Was ihn stattdessen auszeichnet – und was in der Ausbildung von Schauspielern zu einem guten Teil eingeübt wird –, ist das Vermögen, bestimmte Ausdrucksformen bestimmter Gefühle zu kennen und zu nutzen. Weniger gute Schauspieler greifen dabei auf ein Arsenal von mimischen und gestischen Schablonen und Klischees zurück: Wenn die Figur, die sie darstellen, sich erschreckt, lassen sie einen kurzen Schrei hören und reißen beide Hände vor den Mund; sollen sie »herzliche Freude« ausdrücken, legen sie die rechte Hand aufs Herz und neigen lächelnd den Kopf zur Seite; geht es um Verzweiflung, stürzen sie auf die Knie – das Ergebnis ist im Boulevardtheater oder in einer Vorabendserie im Privatfernsehen zu besichtigen.
Eindringlicher im wahrsten Sinne des Wortes, also: dem Innenleben der Zuschauer näher kommend, ist die Darstellungsweise professionell ausgebildeter, talentierter und geübter Schauspieler. Sie spielen jeweils »ihren« König Lear, »ihren« Hamlet oder Mephisto. Der Text und die Grundkoordinaten der Rolle sind immer dieselben. Und doch wird – jenseits der Klischeedarstellung – von jedem dieser professionellen Schauspieler ein anderer Lear, Hamlet oder Mephisto gezeigt werden. Darin liegt der Unterschied. Er kommt zustande, weil die »guten« Schauspieler für die Darstellung der Figurenaffekte nicht in eine bereitstehende Kiste mit Durchschnittsgesten greifen, sondern weil sie sich der beträchtlichen Mühe unterziehen, ihre Erfahrungen mit den eigenen Affekten zu Hilfe zu nehmen. Den traurigen Hamlet bringen sie auf die Bühne, in dem sie sich an Momente oder Zeiten eigener Traurigkeit erinnern. Sie rufen das Gefühl wieder wach in sich und achten darauf, wie es sich in ihrem Körper zum Ausdruck bringt. Nicht jeder Mensch weint, wenn ihn die Trauer übermannt. Manch einer erstarrt, andere erschlaffen. Manch einer verbirgt die Trauer hinter Gesten der Wut. So bringt auch jeder Schauspieler »seinen« Hamlet auf die Bühne und »leiht« der Figur den eigenen Ausdruck der eigenen Gefühle.
Gelingt dies, wird der Zuschauer von der Darstellung angesprochen oder gar betroffen sein. Er wird nachempfinden können, was der Schauspieler in seiner Figur vorstellt. In diesem Fall – und nur in diesem Fall – wird man als Zuschauer anschließend sagen: »Der Hamlet wirkte auf mich sehr authentisch.« Man meint damit allerdings: »Die Hamlet-Darstellung wirkte auf mich sehr authentisch.« Denn natürlich ist es weder Hamlet selbst noch die Person des Schauspielers, deren Authentizität der Theaterbesucher erlebt. Es ist vielmehr die Authentizität der Darstellung. Um sie zu erleben, kommen die Menschen ins Theater, nicht um Herrn Schauspieler X oder Frau Schauspieler Y als Person kennenzulernen.
Das
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