Das befreite Wort
für die Rhetorik, für den rhetorischen Auftritt sowie für das rhetorische Training vor allem eines: Sie löst die irreführende Dichotomie von Sein und Schein, von Echtheit und Künstlichkeit auf. Denn sie führt zu der Erkenntnis: Es gibt keinen wirkungsvollen »Schein« ohne ein Sein, das sich ihm zur Verfügung stellt. Es gibt auch keine Kunst ohne Echtheit und Wirklichkeit. Und es geht nicht um die Alternative »Ich« oder »Schauspielerei«, sondern es geht um eine Darstellung, die eben dadurch »authentisch wirkt« und glaubwürdig ist, dass sie vom »Ich« gestaltet wird (ist sie das nicht, mangelt es ihr an Würde).
Mathematisch ausgedrückt könnte man sagen: Gute Schauspieler ebenso wie gute Redner sind aufgefordert, eine Schnittmenge zu bilden – aus den Anforderungen, die ihre Rolle an sie stellt, und den Ressourcen des eigenen Selbst. Dazu zählt ihr Gefühlsleben, in gleichem Maße aber auch ihr Repertoire an Einstellungen, Werten und Überzeugungen. Dabei werden sie nicht alles, was ihren Charakter und ihre Persönlichkeit ausmacht, in jeder Rolle unterbringen können. Manches wird schlicht und einfach außen vor bleiben müssen, weil es zur Glaub-Würdigkeit der Rollenpräsentation nichts beiträgt. 96
› Hinweis
Anderes wird nur in Ausschnitten und Modifikationen auf die »Figur« passen, die das Publikum sehen will. Sehr vieles aber wird die Rolle bereichern, ihr einen unverwechselbaren Ausdruck geben und sie möglicherweise sogar: liebenswert machen! Auch das ist dann die Befreiung des Redners: Im Spiegel seines Publikums erkennt er den eigenen Liebes-Wert wieder – und die Freude darüber kann an die Stelle der früheren Scham treten.
Die Früchte einer solchen Befreiung sind in der Praxis, in vielen geglückten Reden zu begutachten. Immer wieder gab und gibt es Redner und Rednerinnen, denen es sehr gut gelungen ist, die oben genannte Schnittmenge zu bilden – und deren Erfolg auf der Rednerbühne eben darin wurzelt. Dies gilt
Aus- oder Mitschnitte von Auftritten der nachfolgend aufgeführten Redner im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog
für Martin Luther King, der die Rolle des »moralischen Führers und obersten Predigers« so glaubwürdig gestaltete, weil er in ihr die mutige Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, die ihn als Mensch auszeichnete – die Bereitschaft zu einem Wagnis, bei dem er buchstäblich sein eigenes Leben aufs Spiel setzte.
für Barack Obama, der stilistisch auf den Spuren seines Vorbildes Martin Luther King wandelt, die Herzen der Wähler vor allem aber durch eine freundliche, zuweilen fast naive Zuversicht gewann, dass die Verwirklichung des amerikanischen Traums für ihn selbst, seine Großmutter und alle anderen möglich sei. Sich auf diese Weise zum Sachwalter der Interessen aller US-Bürger zu machen, ist ein Beleg dafür, dass es ihm auf überzeugende Weise gelungen ist, eine Schnittmenge aus Persönlichem und den Anforderungen der Rolle »Präsident(schaftskandidat)« zu bilden.
aber auch
für Helmut Schmidt, dessen verstandes- und vernunftorientierte Art und Weise, das Leben zu betrachten, auch die distanzierte, zuweilen überheblich wirkende Vortrags- und Argumentationsweise seiner Reden bestimmt. Sie passt hervorragend zur Rollenerwartung »Staatsmann«.
für Hildegard Hamm-Brücher, die 1982 dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt nicht zustimmen mochte und im Bundestag dagegen die Stimme erhob, weil der Ablauf des Machtwechsels mit ihrer Auffassung von Schicklichkeit und Anständigkeit nicht zu vereinbaren war. Die Rolle der »unabhängigen Bundestagsabgeordneten, die nur ihrem Gewissen verpflichtet ist«, war ihr damit auf den Leib geschrieben.
für Steve Jobs, den CEO von Apple, der 2005 vor Studenten der Stanford University eine bewegende und sehr persönliche Rede hielt, in der er auch berichtete, wie er sich von Rückschlägen nicht beirren ließ. Er stellte dar, wie er die dafür erforderliche Energie aus dem ungetrübten Stolz über seine Lebensleistung schöpft und sich innere wie äußere Unabhängigkeit als Lebensmotto bewahrt hat. Damit fungiert Jobs zugleich als kongenialer Botschafter des Markenkerns von Apple: Computer für Individualisten, die sich selbstbewusst mit ihrem »Anderssein« schmücken – auch wenn sie dafür einen »hohen Preis« bezahlen müssen.
für Joachim Gauck, der sich höchst wirkungsvoll mit klugen, eindringlichen und persönlichen Worten um das Amt des
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