Das Bernsteinerbe
meine Mutter uns beide …«
»… zusammen sieht«, ergänzte Christoph mit einem wissenden Lächeln, um sogleich spielerisch tadelnd den Zeigefinger zu erheben. »Was sagt man dazu, dass die ehrbare Tochter der noch ehrbareren Magdalena Grohnert, geborene Singeknecht, auf offener Straße mit dem Tunichtgut von Sohn des Medicus Kepler tändelt?«
»An dir ist ein echter Gaukler verlorengegangen. Du solltest auf Jahrmärkten auftreten.«
»Narr auf dem Jahrmarkt – das wäre vielleicht kein schlechter Weg, mein Leben ungestört mit dir zu verbringen.« Seine Augen blitzten auf. »Schließlich bieten so manche Wundärzte ihre Kunst als reisende Tandler an. Warum nicht? Komm, noch heute schließen wir beide uns einer der Truppen draußen auf dem Sackheim an. Fortan kann es uns gleichgültig sein, ob mein Vater über die Bernsteinessenz deiner Mutter spottet oder deine Mutter meinem Vater verbissene Stubengelehrsamkeit vorwirft.« Geschickt schleuderte er den Spitzhut in die Luft, vollführte eine übermütige Drehung auf einem Bein und fing ihn mit einer tiefen Verbeugung wieder auf. »Überzeugt?«
»Das klingt verlockend.« Sie suchte seinen Blick. »Mich begeistert vor allem die Aussicht, sommers wie winters im zugigen Planwagen zu hocken und nicht zu wissen, was uns am nächsten Tag erwartet, was wir in die Suppentöpfe kriegen, wenn wir überhaupt in einer Stadt geduldet werden und nicht wie räudige Hunde mit Knüppeln und Stöcken davongejagt werden.«
»Zugegeben: Sonderlich durchdacht ist die Idee noch nicht. Vielleicht schlafen wir ein oder zwei Nächte darüber und entscheiden dann, wann und wie wir uns miteinander aus dem Staub machen.« Sein scherzhafter Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie ernst er es im Grunde meinte. Ihr Herz raste. Mit einem Burschen durchzubrennen, das hatte sie sich vor vier Jahren, kurz nach ihrer Ankunft in Königsberg, schon einmal gewünscht. Dieses Mal jedoch hatte es einen ganz anderen Reiz. Kaum wagte sie zu atmen, um den Zauber des Gedankens nicht zu zerstören.
Christoph schien ähnlich zu empfinden. »Schließlich vergeht die Zeit mit dir wie im Fluge, meine Liebste. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als öfter mit dir zusammen zu sein. Dafür muss sich doch ein Weg finden lassen, auch jenseits der Gaukler.«
»Dein Vater wird sich kaum freuen, das zu hören«, widersprach sie leise. Schon kitzelte sein Atem ihre Nasenspitze, sie nahm wahr, wie sich seine Lippen öffneten. Für den Bruchteil eines Augenblicks meinte sie, jemand anderen vor sich zu sehen. Erschreckt zuckte sie zurück.
Von der Uhr am Dom schlug es drei. Carlotta seufzte. Seit einer halben Stunde sollte sie bei der Mutter sein. Die Straßen und Plätze rund um den Dom und die ehrwürdige Albertina füllten sich. Die Königsberger waren aus der Mittagsruhe erwacht. Lärmend zog ein Haufen Studenten an ihnen vorbei. Sobald sie ihrer ansichtig wurden, feixten sie und flüsterten freche Bemerkungen. Carlotta wandte sich zu Christoph und lächelte. »Vielleicht ist es doch besser, wenn du mir noch bis zur Hofgasse Geleitschutz gewährst. Wer weiß, aus welchen Ecken die Studenten kriechen, um in die Krüge vor der Stadt zu ziehen?«
»Ja, du hast recht«, stimmte Christoph schmunzelnd zu und bot ihr galant den Arm. Sie wagte jedoch nicht, sich unterzuhaken, sondern spazierte lieber einen Schritt neben dem gutaussehenden jungen Medicus über den Domplatz zur Schönbergschen Gasse gen Westen.
»Wo waren wir vorhin stehengeblieben?« Christoph gab sich wieder gänzlich unbekümmert. »Also, das tölpelhafte Auftreten des Bologneser Doktors hat so manchen darüber hinweggetäuscht, wie viel Wissen trotz allem in dem winzigen Kopf über dem riesigen Elefantenleib Platz hatte. Schließlich kannte er die Schriften William Harveys bestens und konnte dessen Lehren über den menschlichen Körper so genau erklären, als habe er bei ihm persönlich in London studiert. Hast du dich schon einmal damit befasst, welche gewaltige Aufgabe das menschliche Herz Tag für Tag zu leisten hat?« Wieder blitzte der Schalk in seinen Augen auf. »Schließlich jonglierst du im Kaufmannskontor deiner Mutter so viel mit Zahlen, dass es dir ein Leichtes sein dürfte, die Leistung des Herzens nach der Theorie von Harvey zu berechnen.«
»Willst du allen Ernstes behaupten, die studierte Medizin ist letztlich nichts anderes als gesunde Rechenkunst, ähnlich wie das Führen der Handelsbücher?«
»Ich habe gleich gewusst,
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