Das Bernsteinzimmer
versteckt.
Eintragung in das Kriegstagebuch des 50. Armeekorps:
14.10.1942 Krasnogwardejsk
Abtransport der durch die Kunstsachverständigen Rittmeister Dr. Wollters und Sonderführer Dr. Runnefeldt in Puschkin sichergestellten Kunstgegenstände, u. a. der Wandverkleidung des Bernsteinsaales aus Schloß Puschkin (Zarskoje Selo), nach Königsberg …
Es waren 14 Tage, in deren Nächten Michael Wachter kaum Ruhe fand, und wenn er übermüdet auf ein Feldbett sank und drei Stunden erschöpft und unruhig schlief, dann nur im Bernsteinzimmer. Das Feldbett hatte er mit einem zum Ausbau abkommandierten Soldaten aus dem Schlafzimmer von Zar Alexander I. geholt. Es stand in dem Barockschlafzimmer hinter einem Vorhang … eine spartanische Ruhestatt des soldatischen Zaren.
Bei der Auswahl der Helfer, die Dr. Runnefeldt angefordert hatte, Männer mit Fingerspitzengefühl, gab es allerdings einige Vorfälle.
So ließ der Hauptfeldwebel, auch Spieß genannt, eine zur Erholung und Auffrischung aus der Front nach Puschkin abgezogene Kompanie antreten, und es entstanden bemerkenswerte Dialoge.
»Alle mal herhören!« schrie Hauptfeld Max Himmerich und blickte die Reihe seiner Soldaten entlang. »Wer ist Künstler?«
Keiner meldete sich. Man kannte Himmerich zu gut. Wenn sich jemand meldete, konnte es heißen: »Was sind Sie? Bildhauer? Ab zur Latrine und die trockene Scheiße von den Wänden hauen!«
»Ja, gibt's das denn?« brüllte Himmerich. »Ich habe keinen Künstler in der Kompanie?! Nur Analphabeten? Alle Künstler – vortreten!«
Zögernd traten jetzt drei Mann aus den Reihen und bauten sich drei Schritte vor der Kompanie auf. Hauptfeld Himmerich kniff die Augen zusammen. Drei, immerhin etwas.
Er ging zum ersten Freiwilligen und starrte ihn an. Die drei Kerle sahen nicht aus wie Künstler, auch wenn Himmerich nicht wußte, wie ein Künstler auszusehen hatte.
»Was sind Sie?« knarrte er.
»Schütze Eberhard Gneisl, Herr Hauptfeld.«
»Was habe ich gesagt«, brüllte Himmerich. »Nicht wer Sie sind!«
»Impressionist«
»Aha!« Himmerich zog die Augenbrauen hoch. Impremist, dachte er. Was ist das? Sicher unbrauchbar …
»Wegtreten!« bellte er. Der zweite Künstler grinste breit, als Himmerich zu ihm kam. »Und Sie?«
»Töpfer, Herr Hauptfeld.«
Himmerich holte tief Atem. »Sie Idiot!« schrie er und wurde hochrot im Gesicht. »Stellt Töpfe her und nennt sich Künstler!«
Nummer drei sah mit gemischten Gefühlen seiner Befragung entgegen und nahm Haltung an, als Himmerich vor ihm stand.
»Und Sie? Sind wohl artistischer Kunstscheißer?!«
»Nein, Herr Hauptfeld … Bleiverglaser.«
Himmerich stutzte. Was man darunter verstand, war ihm völlig unbekannt, auf jeden Fall gehörte es nicht zur Kategorie Künstler, wie Himmerich sie verstand. Kein Pianist, kein Sänger, kein Maler, nicht mal ein Anstreicher. War das eine saumäßige Kompanie!
»Wegtreten!« brüllte Himmerich. Er sah die lange Reihe der Angetretenen an und steckte den Daumen neben das Spießbuch in den aufgeknöpften Uniformschlitz. »Ich brauche jemanden mit Fingerspitzengefühl.«
»Hier, Herr Hauptfeld!« rief es aus der Mitte.
»Vortreten!«
Ein Gefreiter kam nach vorn und baute sich vor Himmerich auf.
»Was sind Sie?« Himmerich war auf alles gefaßt.
»Schneider, Herr Hauptfeld.«
Himmerich atmete hörbar auf. Ein Schneider! Wenn ein Schneider kein Gefühl in den Fingerspitzen hatte, konnte er einpacken! Wozu tragen die Schneider alle einen Fingerhut? Das war der richtige Mann!
»Sie melden sich abmarschbereit in einer halben Stunde bei mir!« sagte Himmerich wohlwollend. »Sie werden nach den Zarenschlössern verlegt. Kompanie weggetreten!«
Zufrieden stiefelte er zurück in seine Schreibstube. Nur ein Mann, aber immerhin – die Ehre der Kompanie war gerettet. Künstler sind eben selten, weiß der Teufel, wohin man sie eingezogen hat.
Immerhin – so kamen aus Puschkin zehn Männer mit Fingerspitzengefühl zusammen und meldeten sich bei Dr. Runnefeldt. Im Vertrauen auf die gute Organisation der Wehrmacht befragte er nicht jeden einzeln, sondern versammelte sie im Bernsteinzimmer. Drei Verschalungen waren bereits abgetragen worden. Die Pracht, die darunter zum Vorschein kam, ließ jeden Betrachter ganz still werden.
»Das Bernsteinzimmer …« sagte einer der zehn leise. Dr. Runnefeldt sah zu ihm hinüber.
»Sie kennen es?«
»Nur von Bildern, aber die können nie wiedergeben, wie es wirklich ist. Das erschlägt einen
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