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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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er dank einer Adresse, die er von seinem Nachbarn erhalten hatte, der Frankfurt schon kannte und mit einem schweren Bruch nach Hause zurückgekehrt war, eine Anstellung als Hilfsarbeiter auf einer der vielen Baustellen fand. Daß die Erinnerung an das alte Dorf in ihm so kräftig blieb, daß er sie seiner Enkelin noch übergeben konnte, als sei die Familie eben erst aus dem Westerwald davongezogen, lag sicher auch daran, daß die Welt, die ihn in Frankfurt empfing, ihm genauso fremd war, als sei er nach Amerika ausgewandert. Und wirklich hatten die katholischen Handwerker- und Arbeitervereine, die er manchmal besuchte, den Geist der landsmannschaftlichen Gesellschaften jenseits des Ozeans, denn die meisten ihrer Mitglieder |108| waren wie er im Westerwald geboren und hatten nach Frankfurt nichts als ihre Religion mitgebracht.
    Ein weiterer Grund für die Einprägsamkeit des von seinen Söhnen verlassenen Dorfes muß seine Häßlichkeit gewesen sein. In diesen Partien des Westerwalds besaß die Armut keine pittoresken Züge. Seine Häuser waren trist verputzt, die meisten verfallen, die Kirche sah aus wie ein Spritzenhaus, es gab keinen Winkel, in dem ein städtischer Naturfreund ein Stück bukolischer Harmonie hätte erkennen wollen. Das Haar der Menschen von Dillenhausen war spülwasserfarben, ihre Haut grau, ihr Kinn spitz, das gab ihnen einen verschlagenen Ausdruck. Sie hatten dicke Köpfe mit wulstigen Stirnplatten und einen schweren athletischen Knochenbau. Bei ihrer erbärmlichen Nahrung konnte es nicht anders sein, als daß sie diese Kraft aus den Steinen saugten, die aus ihren Wiesen und Feldern guckten, und tatsächlich sahen ihre Brote grau wie die Steine aus, so daß man hätte denken können, sie seien nicht gebacken, sondern bei stechender Sonne draußen auf dem Acker ausgegraben worden. Es gab wenig dörfliches Leben in Dillenhausen. Die Leute hielten sich für sich und ließen ihre Nachbarn nicht gern in ihre Häuser sehen, obwohl alle miteinander verwandt waren und längst wußten, was sich zu verbergen gelohnt hätte.
    Eine kleine Eigentümlichkeit unterschied dennoch das Dorf der Agnes von den Dörfern der Umgebung. In den wenigen Gesten, die sich bei der bemerkenswerten Sittenkargheit ausgebildet hatten, entfalteten die Frauen des Dorfes eine Zeremonialität, wie man sie in Deutschland fast nie, dafür aber im slawischen und italienischen Süden wiederfindet. Ein so knappes Begrüßungsritual wie das Handgeben bekam in Dillenhausen eine auffällig feste Form, die in formentwöhnter Zeit geradezu höfischen Charakter annahm. Zwei Frauen, die mit ihren Kopftüchern, ihren breiten Becken und ihren schweren kurzen Beinen auf dem Kirchhof standen, nahmen sich zunächst aus den Augenwinkeln wahr, drehten sich dann mit einer sparsam kalkulierten Bewegung der Füße aufeinander zu, machten einen kleinen Schritt und legten ihre Hände ineinander, indem die eine ihre geöffnete |109| Hand der anderen wie um eine Gabe bittend entgegenstreckte, die andere diese Bitte erfüllte, indem sie mit ihrer Hand, den Handrücken nach oben, die fremde bedeckte. Dabei, und dies war das Entscheidende, löste keine der beiden Frauen ihren Oberarm vom Oberkörper, die Verbindung der beiden Hände ereignete sich tief unten und artete niemals in ein Schütteln aus. Für die Dauer einer Sekunde blieben die Frauen unbeweglich und wandten sich dann gemessen voneinander ab, indem sie ihre Becken in eine andere Richtung stellten. Und diese Becken erzeugten den Eindruck, daß die Frauen keine garstig bedruckten Kittelschürzen, sondern maria-theresianische schwarze Reifröcke trügen, unter denen die schwachen Füße mit ihren Ödemen und Krampfadern längst durch geräuschlos gleitende kleine Rollen ersetzt worden sind.
    Stephan hat Agnes niemals in der geschilderten Art die Hand geben sehen, denn wie jede große Form war auch diese auf die Mitwirkung anderer angewiesen, die es in Frankfurt natürlich nicht gab. Man hätte Agnes einer Dillenhäuserin gegenüberstellen müssen, um alsbald bemerken zu können, daß auch in ihr das Erbe des Dorfes noch lebendig war, wie eine Tonscherbe den Sinn ihrer Wölbung erst verrät, wenn man sie wieder an die Stelle am Bauch des zerbrochenen Kruges setzt, an die sie hingehört hat. Vielleicht wäre auch Agnes selbst dann deutlich geworden, daß ihr Charakter in Dillenhausen verwurzelt war, obwohl sie doch auch Frankfurter Großeltern hatte. Dabei war es nicht leicht zu sagen, worin dieser

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