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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Charakter eigentlich bestand. Er war einfach von älterer Art, von höherem spezifischem Gewicht, aber in einzelnen Zügen kaum festzumachen; er war wie die Steine im Wasser, eigentlich also prähistorisch: kühl und glatt und jedenfalls vor Erfindung der Moral entstanden.
    Dazu paßte durchaus, daß Agnes, als sie Stephan vom Schicksal ihrer Tante erzählte, an keiner Stelle die Stimme bedauernd klingen ließ, und zwar weder, um Mitleid für die arme Frau zu erwecken, deren Leben so früh in einer Sackgasse geendet hatte, noch um, was dann geschah, die Rache nämlich, zu motivieren und zu rechtfertigen. Aus Agnes’ Mund klang alles, als sei jeder |110| selbst schuld, der sich entschließe, am Leben teilzunehmen, eine Gefahr, in die sie selbst schon deswegen niemals geraten konnte, weil sie nicht mehr in Dillenhausen lebte, sondern in einem hermetischen Exil, in dem sie sich vor selbst dort noch gelegentlich auftretenden Gefahren des Lebens jederzeit in ihr Souterrain zurückziehen konnte.
    Die Vorgänge des Lebens waren in ihrem Kopf den Begriffen »gut und böse« entrückt. Die Rache sollte nicht etwa atavistisch das verletzte Recht wiederherstellen, sie glich vielmehr dem Befehl des erzürnten Königs Xerxes, der das Meer auspeitschen ließ, als es ihm nicht zu Willen war und seine Schiffsbrücke zerstört hatte: Das war das Rasen einer Gewalt gegen eine gleichberechtigte andere.
    Agnes war die letzte, die sich bereitgefunden hätte, an der Berechtigung der Rache herumzugrübeln, und wenn in einer rächenden Tat Spuren eines Rituals erkennbar wurden, dann war sie in ihren Augen endgültig der Diskussion enthoben.
    Der Wandel der Zeiten hatte der Geschichte den Rückblick zu ihren Ursprüngen immer mehr erschwert. Wer die Vergangenheit nicht in der Form ausgewählter Mosaikstückchen betrachtete, dem war sie unendlich fremd, und es erschien unwahrscheinlich, daß die mythischen Prinzessinnen, die unnachahmlich schön die Stufen ihres Palastes hinaufschritten, den sie mit ebenso schönen Gebärden und dem frischen Blut ihrer Kinder auf den Lippen kurze Zeit danach wieder verließen, um ihre Zuflucht in einem von geflügelten Tieren bewohnten Firmament zu nehmen, ebensolche Menschen gewesen sein sollten wie die heute Lebenden.
    Ein anthropologischer Archäologe hätte sich vielleicht zu der Behauptung verstiegen, Agnes sei eine Schwester dieser sagenhaften Frauen, weil sie aus einem Land stammte, in dem man erschöpft und traumlos schlief, in dem Erscheinungen aber nicht ausgeschlossen waren. Agnes’ Mutter war dabei eine überzeugte Städterin geworden, die für das elende Dillenhausen nur Verachtung übrig hatte. Bei Agnes war das Dorf nun wieder da, obwohl sie sich ihr ganzes Leben in den geräumigen Herrschaftsküchen |111| im Souterrain stattlicher Villen aufgehalten hatte, zwischen modernen, blitzenden Wasserhähnen und Eisschränken und künstlerisch gestalteten Kachelwänden. Es war, als sei sie selbst die Tante, von der sie erzählte, weil sie ihre Quellen nicht nannte, so daß ihr Bericht wie aus erster Hand wirkte, was das Erschrecken Stephans erklären könnte.
    Die Tante der Agnes war siebzehn Jahre alt. Sie hieß wie ihre Nichte, und sie lebte mit ihren Eltern in einem Schäferkarren am Rande des Dorfes. Sie war ein großes Mädchen, mit langen strohfarbenen Zöpfen und grauen Augen. Sie hatte kleine Brüste und ein breites Becken, lange Beine und kräftige Füße. Sie hatte sich selbst noch niemals nackt gesehen. Ihre Arbeit war schwer, weil sie die Arbeitskraft ihrer Mutter ersetzen mußte. Diese früher starke Frau hustete seit einiger Zeit und hatte solche Schmerzen in der Brust, wenn sie etwas Schweres tragen mußte, daß der Schäfer ihr erlaubte, bei schlechtem Wetter im Karren zu bleiben und sich zu schonen.
    Agnes galt im Dorf als schönes Mädchen, obwohl sie dort selten zu sehen war. An den Tanzfesten nahm sie schon gar nicht teil, und zur Kirche kam sie als letzte und ging als erste, damit sie mit niemandem sprechen mußte. Der Kaplan sagte, sie sei ein schlimmes, freches Ding, drückte sich aber in der Zeit des Heumachens oft in der Nähe des Schäferkarrens herum. Dort lagen die Wiesen einer Witwe, die ganz allein in der Welt stand, seit auch ihr einziger Sohn im Krieg gefallen war, und der der Kaplan deshalb beim Heumachen half. Die Witwe gab ihm ein Butterbrot dafür. Auch Agnes ging in dieser Zeit oft zu der Witwe, um im Heu zu helfen, bis die Witwe sie nicht mehr mochte und sie

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