Das Bett
geschickte Lügner darauf achten, daß in ihrem erlogenen Gebäude immer wieder winzige Details auftauchen, die der Belogene kennt oder doch mühelos nachprüfen kann, um ihn durch die Handgreiflichkeit dieser Splitter zu verführen, die Empfindung der Wahrhaftigkeit auf das Ganze auszudehnen, muß auch der Erzähler, der sein Publikum rühren will, dafür sorgen, daß die Hörer in der Geschichte etwas entdecken können, das sie darüber täuscht, wie fern die Geburten der Phantasie oder die Ereignisse einer untergegangenen Zeit ihrem Leben in Wirklichkeit stehen. Agnes hatte freilich niemals die Absicht, mit ihren Erzählungen bei Stephan Effekt zu machen, und doch erzählte sie diesmal effektvoll, und zwar weil sie eine Redensart in der Geschichte gebrauchte, die Stephan schon hundertmal aus ihrem |106| Mund gehört hatte, ohne sie richtig zu verstehen, und die nun, wie in einem etymologischen oder idiomatischen Lexikon, auf ihren Ursprung zurückgeführt wurde, wo sie ihre Redensartlichkeit verlor, um ein grausiges Leben zu gewinnen.
»Dem würde ich einen Pfannkuchen backen«, sagte Agnes, wenn von einem notorischen Bösewicht die Rede war, vom Rasputin oder dem schwedischen Streichholzkönig, aber auch von dem Eisenbahnangestellten, der in der Nähe der Korns wohnte und bei ihr unter dem Verdacht der Bigamie stand. Es half dem Mann nichts, daß er den Hut tief zog, wenn er der Agnes ansichtig wurde, und ein schallendes »Grüß Gott« und »Empfehlung an die gnädige Frau!« über die Straße rief, um dem Ruf seiner österreichischen Herkunft durch laute Demonstrationen der Liebenswürdigkeit gerecht zu werden. Agnes sah stets durch ihn hindurch, lächelte aber besinnlich vor sich hin und sagte leise: »Den Deubel werd’ ich tun.« Stephan verstand zwar, daß sie einen Mann nicht grüßte, dem derart schwere Vorwürfe gemacht wurden, aber es war ihm nie klar, warum der Bigamist mit einem köstlichen Pfannkuchen belohnt werden sollte. Noch unklarer war das im Fall des sagenhaften Rasputin, obwohl Stephan im Dunstkreis dieses dämonischen Namens bereits Zweifel an der Gutartigkeit von Agnes’ Gaben erwuchsen. Was sich aber tatsächlich hinter der anheimelnden Redensart verbarg und wie wohl sich Agnes darin fühlte, hatte er nie zu erforschen versucht. Agnes hatte viele Redensarten. Alle bezogen sich auf die Welt der Küche oder des Ackers; sprachliche Antiquitäten aus Zeiten, die es vielleicht nie gegeben hatte.
Agnes stammte aus der Stadt. Ihr Leben hatte sich genaugenommen nur in einem einzigen Stadtteil, unserm Westend, abgespielt, und erst der Krieg und die Zerstörungen, verbunden mit dem Verschwinden ihrer Dienstherren, hatten sie aus der angestammten Gegend entfernt, wo sie jedes Haus, jede Straße, jeden Baum und jeden Menschen gekannt hatte. Ihr Lebensraum war auch im Westend damals begrenzt. Die breiten Straßen, die den südlichen Teil dieses Quartiers umgaben, waren für sie wie reißende Ströme, natürliche Hindernisse, die nicht dazu einluden, |107| sie zu überwinden, sondern den heimatlichen Straßenzügen treu zu bleiben.
In diesen Jahren, bevor die Weltgeschichte sie zwang, auf ihre alten Tage noch einmal in anderer Luft zu atmen, konnte sie an den Fingern abzählen, wie oft sie den Main gesehen hatte, und auch außerhalb der Stadt bewegte sie sich so ungern, daß sie das Dorf Dillenhausen, aus dem ihr Großvater stammte und das den einzigen Maßstab ihrer Vorstellungswelt bildete, dennoch nur dreimal als Kind besuchte. Wer sie hörte, gewann den Eindruck, daß dies Dillenhausen nicht nur das Zentrum der Erde sei, sondern eigentlich die Erde schlechthin, aus der alles Leben gemacht ist und zu der alles Leben wieder werden muß. Von Dillenhausen waren die Menschen einstmals ausgezogen, zu den Zeiten Adams und Evas, hatten es aber ständig im Blick behalten und sich dort, wenn sie klug waren, ein Pied-à-terre bewahrt.
Inzwischen waren die großen Städte entstanden, mit Straßenbahnen und Hausmeisterwohnungen und Laternenanzündern. Das Angesicht der Erde bevölkerte sich mit diesen Siedlungen, und es gab Augenblicke, in denen man durch die gepflegten, mandelbäumchengesäumten Vorstadtstraßen ging und dabei völlig vergaß, daß es Dillenhausen gab und daß alles, was außerhalb seiner Grenzen lag, später, schwächer und ein bißchen kindisch war. Auch ihr Großvater hatte im Gefolge Adams eines Tages zu Fuß Dillenhausen verlassen und war vier Tage später in Frankfurt angekommen, wo
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