Das Bett
auch nicht. Seine Welt war so klein. Außer seinen Eltern, ein paar Schulkameraden, Ines Wafelaerts und wenigen Verwandten gab es nur wenige Menschen, die zu seinem täglichen Leben gehörten. Es ist deshalb erstaunlich, daß der Begriff »Alle«, der seinen Erfahrungen zufolge höchstens zwanzig Menschen umfaßte, in seiner Vorstellung den Blick aus tausend Augen beschwor, aber nicht von unbeteiligten Wesen, sondern von einem vielköpfigen Kollegium aus Richtern und Schöffen, die einst das Urteil sprechen würden.
Als Agnes schwieg, versuchte Stephan seine Beklemmung zu überspielen, indem er noch etwas fragte, obwohl er den Schluß genau verstanden hatte. »Na, was wohl?« antwortete Agnes und legte ein frisch gebügeltes Hemd zusammen. »Die haben ihm halt einen Pfannekuchen gebacken. So macht man das bei uns.« Stephan sah plötzlich die Welt der Agnes mit anderen Augen. Alles Enge, Dürftige, Unentwickelte verschwand aus ihr, dafür ahnte er nun erbarmungslose Kräfte, die unbestechlich und unsteuerbar waren, vor denen die Feinde sich hüten mußten und die andrerseits bis zum Tage der Ungnade ein sicherer Schutz sein konnten für den, der sich auf Gedeih und Verderb in ihre Macht begab.
Agnes war mehr als eine Zauberin, sie hielt die Gewalt über Leben und Tod in ihren Händen, die sie mittlerweile spielerischer ausübte als in den alten Zeiten. Jetzt wurde nicht mehr jeder Übeltäter von ihr mit dem Tode bestraft. Viele liefen noch lange in ahnungsloser Freiheit umher. Konnte es etwa auch Unschuldige ereilen, nur deshalb, weil sie ihr mißfallen hatten?
Zu einer Zeit, in der sich der vergeßliche Stephan schon lange nicht mehr an die Erzählung der Agnes erinnerte, war dieser Eindruck noch völlig lebendig. Ungestört und unkorrigiert durch die Erfahrungen des Erwachsenwerdens prägte er sich Stephans Seele ein und beherrschte schließlich jeden Winkel seines Herzens.
|123| IV.
Florence kannte ihren Sohn nicht. Stephan war ihr Fleisch und Blut. Die Vorstellung, daß sie etwas von ihm unterscheiden sollte, schien ihr absurd. Ohne sich fortwährend mit ihm zu beschäftigen, erkannte sie sich in tausend kleinen Gesten wieder, wenn sie ihn beobachtete. Gewiß, Tirolers Autorität wuchs bei ihr nach jedem Besuch des gelehrten Mannes, und sie konnte sich auch nicht satt daran hören, wenn er ihr den Seelenzustand ihres Sohnes auseinanderlegte. Die Faszination, die sie bei diesen Teeunterhaltungen empfand, rührte jedoch immer mehr von der geschmeidigen Stimme ihres Gastes und seinen hinter den dicken Brillengläsern immer menschlicher blickenden Augen her als von dem Gefühl, er treffe die Wahrheit auf den Kopf. Ihr Verstand widersprach niemals den Analysen Dr. Tirolers. Sie hatte ihre Freude an ihnen und machte sie sich zu eigen, wenn sie mit ihren Freundinnen sprach oder wenn sie Willy das seltene Vergnügen einer Unterhaltung am abendlichen Kaminfeuer zuteil werden ließ. Aber in tiefster Seele erreichten sie die ärztlichen Thesen nicht, weil sich alles in ihr dagegen wehrte, sich von ihrem Sohn trennen zu lassen. Mit dem Familiensinn der Pharaonen, die niemanden auf der Welt ebenbürtig fanden als ihre eigenen Schwestern, hatte sie sein Dasein mit dem ihren verschmolzen. Stephan war mit ihr selbst identisch geworden. Ihr Kind war ebenso stark, ebenso einzig und ebenso gesund wie sie. Seine Launen waren Ausdruck seines Übermutes und würden sich wandeln, wenn er nur abgelenkt wurde.
Die lächerliche Anhänglichkeit an Agnes hatte in Wahrheit |124| doch niemals das Gewicht, das Dr. Tiroler ihr in vorsichtigen Worten gab. Stephan brauchte wahrscheinlich nur einen ganz leichten Anstoß, um in eine andere Richtung zu rollen. Florence ließ die Frauen, denen sie zutraute, daß sie Stephan fesseln könnten, an ihrem inneren Auge vorbeiziehen.
Ines Wafelaerts hätte ihn aufwecken können, dachte Florence, bevor sie zu einer solchen Ruine wurde. Aber es war nicht nur ihr körperlicher Verfall, der Florence erschütterte. Ines war durch ihr Unglück offenbar wunderlich geworden. Was sollte denn vor allem diese Rotkreuzschwesternhaube? »Sie kann eben immer noch nicht aufhören«, dachte Florence und stellte sich vor, wie die greise Ines im Befehlston von jungen Blutspendern das Entblößen ihrer Arme forderte, wie sie die kräftigen Muskeln abband und in der Betrachtung dieses Stückes Fleisch nachdenklich verharrte.
Wäre Ines fünfundzwanzig Jahre jünger gewesen, sie hätte Stephan in ihr Cabriolet geladen
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