Das Bett
Frankfurter. Niemals gelang es ihm, den Frankfurter Akzent, den Stephan selbstverständlich nur, und dann mit Absicht, benutzte, wenn er deutsch sprach, abzulegen, ja, ihn auch nur mit Bewußtsein wahrzunehmen. Aber im großen und ganzen wurden die Wunder New Yorks in einer Geschwindigkeit zu den natürlichen Konstanten in Willy Korns seelischer Ausstattung, die keinen Zweifel erlaubte, daß seine Übersiedlung nur mit der Freilassung eines im Zoo geborenen Raubtiers in die Savanne vergleichbar war. Selbst Florence staunte, wie wohl sich ihr Mann in der neuen Heimat fühlte und wie eifrig er danach trachtete, alle europäischen Federchen zu verlieren.
Keine Brücke führte also von den Gesinnungen der Korns zu der Lebensform ihrer langjährigen Hausgenossin Agnes, weil die alte Kinderfrau nicht nur in ihrem Stand und ihrer Bildung, sondern vor allem durch Hunderte von Jahren von ihren Dienstherren geschieden war, und selbst Stephan fand seinen Weg zu ihr nicht, weil er sie verstehen konnte, sondern weil er jede ihrer Lebensregungen in ihrer Fremdartigkeit genoß. Das schönste Geschenk, das Agnes dem kleinen Stephan machte und wofür er sie liebte, war, daß sie ihn niemals nach seiner Meinung fragte, ja, daß sie auf ihre Fragen niemals eine Antwort verlangte. Wenn sie ihm in der Weihnachtszeit einen kleinen Teller mit noch ofenwarmen Zimtsternen und Vanillekipferln hinstellte und ihn fragte, wie ihm die Plätzchen schmeckten, geschah es häufig genug, daß er, ohne ein Wort zu sagen, die Plätzchen nicht einmal anrührte, sondern ruhig in seinem Buch über die Entwicklung der Luftfahrt weiterlas. Völlig gleichgültig, ob Stephans Zurückhaltung darauf beruhte, daß er satt war oder nichts Süßes essen wollte oder ihm die Plätzchen mißraten aussahen, nahm sie nach einer Weile den Teller wieder weg, wie ein Chemiker, der feststellt, daß eine ihm fremde Substanz auf eine andere, mit der sie probeweise zusammengebracht wird, nicht reagiert, und der daraufhin den Versuch beendet.
In den schönsten Jahren seines Lebens, als die meisten der natürlichen Körperfunktionen nicht ohne Agnes’ handgreifliche |119| Hilfe abliefen, war zwischen den beiden eine Übereinkunft entstanden, durch die jeder ohne Vereinbarung und Absprache seinen Part übernahm. Daß Agnes dem kleinen Stephan im Park die Hosen aufknöpfte und mit einer Hand hineingriff, während sie die wärmende andere Hand auf den kleinen Oberkörper legte und ihn so hielt, bis er seinen Bach gemacht hatte, dieses Zusammenwirken zweier Menschen zum Zweck eines gemeinsamen Erfolges hatte Stephan eine tiefe Empfindung davon gegeben, was es heißt, wenn die Last eines Lebens auf mehrere Schultern verteilt wird. Daß sein eigenes Herz Tag und Nacht schlagen mußte, um ihn am Leben zu erhalten, erfüllte ihn, wenn er in späteren Jahren daran dachte, mit solchem Grauen, daß er sich immer auf der Stelle zwang, an etwas anderes zu denken. Vielleicht hätte er Agnes sonst bittere Vorwürfe gemacht, daß sie sein Herz nicht wenigstens zwölf Stunden am Tag von dieser sisyphushaften Tätigkeit entlastete und seinen Kreislauf in dieser Zeit durch ihre Kraft am Leben hielt.
Weil seine Einstellung zu Agnes nun einmal im Vegetativen ihre Wurzeln hatte, ist es nicht verwunderlich, daß Stephan allen Erinnerungen seiner Amme überhaupt nur insoweit folgte, als sie das Verhältnis zueinander berührten. Das Leben in Dillenhausen, das Agnes’ Vorfahren dort geführt haben mochten, war selbstverständlich ohne das geringste Interesse für Stephan, dem schon die eigenen Großeltern aus Calden in den nordhessischen Nebelfeldern versunken waren und Florence’ Vorfahren eigentümlich objektiv, wie Personen der Zeitgeschichte, die man von Archivphotographien her kennt, aber nicht als eigenes Fleisch und Blut vorkamen. Stephan hörte die gleichmäßige Stimme, die sich mit dem Rauschen der gestärkten Hemden vermischte, wenn Agnes mit dem Bügeleisen in die eingesprengten Stoffberge hineinfuhr, und diese Geräusche waren nichts anderes für ihn als das ewige Rieseln eines kleinen Baches, in das sich der Wind, der die silbernen Blätter der Weiden bewegt, hineinmischt. Er wurde Agnes mit dieser Empfindung sogar auf eine höhere Weise gerecht, denn sie erzählte keine Geschichten, die einem Höhepunkt oder einer Auflösung zustrebten, sondern unterwarf |120| sich ganz dem Prinzip der Reihung in sich gleichwertiger Ereignisse, wie es die Kinder tun, die sich weigern, das Ende eines
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