Das Bett
Zufälligkeit begann, wie ich sie aus Frankfurt nur zu gut kannte. So wie die Alten, wenn sie sich die Landkarten ihrer Welt betrachteten, genau angeben konnten, wo das Ende dieser Welt lag, wo die Löwen ihre Höhlen hatten, wo Scylla und Charybdis lauerten, welche Insel der Kirke gehörte und wo Kalypso immer noch das Meer ansah, konnte ich von dieser hohen Terrasse das ganze Land wiedererkennen und beleben. Der Rheingau vermittelte mir, was Inseln haben können, die sich von einem Hügel überblicken lassen: Es war das Erlebnis des Besitzergreifens, weil es mir hier gelang, den ersehnten Gegenstand beim Namen zu rufen.
Florence erlaubte sich nicht lange, ihren Träumen nachzuhängen. Sie hatte wichtigere Aufgaben. Sie fühlte, daß Stephan ihr entglitt.
Lohnte der Brief meiner Tante eigentlich jenen Akt der Indiskretion, den Florence unter anderen Umständen als unmoralisch abgelehnt hätte? Sie war einfach in Stephans Zimmer eingedrungen, hatte es durchsucht, beinahe jeden Gegenstand als |127| Indiz für ihre Schlüsse betrachtet und schließlich den Brief gefunden. Er lag unter dem Telegramm, das ihre Ankunft ankündigte, auf einem hotelsilbernen Tablett. Anders als sonst, wenn sie über Stephan nachdachte, fragte sie sich, nachdem sie den Brief gelesen hatte, keinen Augenblick, was er für Stephan und sein Leben in Frankfurt bedeutete. Sie griff einfach zu, weil sie sah, daß eine Frau ihn geschrieben hatte, von der sie nicht wußte, ob sie gefährlich war oder ob sie nur eine zufällige Rolle in Stephans Leben spielte. Ohne sich darüber klar zu sein, daß sie damit zu einer Zauberei ihre Zuflucht nahm, die sich nur graduell von den Zeremonien der Hexen unterschied, die an Wegkreuzungen Nadeln in die Wachsebenbilder ihrer Feinde senkten, steckte sie den Brief in ihre Handtasche und empfand dabei sofort eine Erleichterung, als habe sie die fremde Frau, gleichgültig, was diese gegen Stephan im Schilde führte, gelähmt und entwaffnet, solange der Brief in ihren Händen sei. Der Fetisch zeigte sich als dasjenige Erbstück der Religion, das sich bei Menschen, die wie Florence niemals ein religiöses Leben geführt hatten, am zähesten behauptete. Zugleich wurde Stephan durch die Handlungsweise seiner Mutter klar, was meine Tante mit keinem Wort gewagt hatte, durchblicken zu lassen, daß es sich nämlich bei dem an der Hotelrezeption abgegebenen Brief um einen Liebesbrief handelte.
Florence glaubte sich in Handschriften auszukennen, und so genügte ihr ein Blick, um zu dem Urteil zu gelangen, daß die Schreiberin der Zeilen jünger als Stephan sein mußte. Das Blatt trug die Schrift einer Lehrerin, die sich in ihrer naiven, gut lesbaren Deutlichkeit der Jugendlichkeit der Schülerinnen angepaßt hatte. Mit Sicherheit würde meine Tante diese Schrift bis in ihr Greisenalter nicht verlieren, und dennoch hatte Florence recht: Meine Tante war jünger als Stephan, obschon nur unbedeutend, und sie wirkte sogar sehr viel jünger, ein Ergebnis der Unvergleichbarkeit der gesellschaftlichen Genres, denn meine Tante hatte verspätet den Stil der Jugendbewegung adaptiert, und Stephan gab sich alterslos und weltläufig, jedenfalls aber erwachsener als meine Tante.
|128| Florence war nicht grundsätzlich gegen eine Liaison ihres Sohnes mit einer jüngeren Frau. Sie hätte Ines oder Dr. Tiroler gegenüber sogar immer auf der Ansicht bestanden, das einzige, was Stephan im Grunde nötig habe, sei ein einfaches, gutes, junges Mädchen, als sei ihr Sohn der »Fliegende Holländer«.
Sie erkannte nicht, daß ihre Vorstellung, welche Art von Menschen heilsam auf ihren Sohn wirken könnten, mit ihren eigentlichen Empfindungen für Stephan nur wenig zu tun hatte. Sie begriff nicht, daß sie sich an seinen Charakter längst viel zu sehr gewöhnt hatte, um etwas Absonderliches an ihm zu finden. Die Darstellung, die sie ihrem Mann, Ines oder Tiroler von Stephan gab, war selbstverständlich nur auf diese Menschen berechnet, und sie bediente sich deshalb auch einer Sprache, die von ihnen verstanden werden konnte. Sie fühlte, daß sie zu anderen über Stephan nur sprechen konnte, wenn sie seinen Zustand als schwierig schilderte, und deshalb glaubte sie selbst allmählich, über ihn beunruhigt zu sein. In Wahrheit aber geriet sie erst aus der Fassung, als sie in Stephans Umkreis entdeckte, was sie ihm angeblich schon so lange wünschte – eine junge Frau.
Ein Aphoristiker würde sagen, daß sie nicht unter der Krankheit ihres Sohnes
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