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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Märchens hinzunehmen, und auch dann, wenn die Prinzessin erlöst und verheiratet ist, auf eine Fortsetzung der Erzählung drängen, weil sie nicht eine mehr oder weniger geschickt komponierte Handlung bewundern, sondern sich in eine andere Welt tragen lassen wollen, die so lange um sie herum besteht, wie sie die Stimme des Erzählers hören. Bei den Geschichten, die Agnes beim Bügeln erzählte, genügte es, irgendwo einen Augenblick zuzuhören, um über die Natur des stundenlangen Berichts im ganzen aufgeklärt zu sein. Folgerichtig beendete sie diese Geschichten auch nicht, wenn sie an ihr Ende gelangt waren, sondern wenn sie fertig gebügelt hatte und das Zimmer mit hohen Stapeln frischer Wäsche verließ, um sie auf die verschiedenen Kommoden in den Ankleidezimmern des Hauses zu verteilen.
    Diesmal hatte Stephan aufgehört zu lesen, weil ihn eine Stelle der Erzählung unwillkürlich gepackt hatte, und zwar nicht durch ihren Stoff, sondern weil sie in ihm ein altes Bild auftauchen ließ. Stephans Nicht-Zuhören war vielmehr ein Sofort-wieder-Vergessen. Er sperrte sich nicht im mindesten gegen Agnes’ Stimme, sondern er empfand mit Behagen, daß sie wie ein warmer Wasserfall an ihm ablief. Dabei geschah es dennoch hin und wieder, daß die Geschichten der Agnes Spuren in seinem Gedächtnis hinterließen, denn er war nur imstande, die Waffen seiner Gleichgültigkeit gegen die Kraft der Erzählerin ins Feld zu führen, und besaß keine Mittel gegen die Gewalt einzelner Wörter, die sich aus dem Zusammenhang der vergessenen Erzählung herauslösen konnten, um ein geheimes Leben in seinem Herzen zu beginnen.
    Der Bazillus, der von Stephans müßigem Ohr aufgefangen und in den Mittelpunkt seiner erinnernden Phantasie getragen wurde, war der blaue Schürzenzipfel, der zwischen zwei Brettern hervorleuchtete. Ohne Agnes zu unterbrechen, hob Stephan den Kopf und sah sie staunend an. Zipfel war zwischen ihnen ein Wort aus der Kleinkinderzeit, das den Teil an Stephans Körper bezeichnete, den Agnes freilegte, wenn sie ihm im Park oder im Haus die kleinen Hosen aufknöpfte. Daß Stephan das Wort, als |121| Agnes es aussprach, in diesem alten Sinn verstand, lag nicht an dem Zusammenhang der Erzählung, der diesen Bezug freilich hätte befördern können, sondern an der Vorstellung, die Agnes’ Beschreibung in Stephan beschwor: ein Stückchen sich bauschenden Stoffes, der sich durch einen Spalt drängt. Was Stephan beunruhigte, war die Tatsache, daß ihm plötzlich das Wort Zipfel aus Agnes’ Mund in seinem Klang verändert erschien. Während er es als ein besonders nüchternes, geradezu technisches Wort in Erinnerung hatte, kam es ihm auf einmal vor, als habe sie dies Kinderwort seiner sicheren Eindeutigkeit beraubt. Er spürte ein Frösteln und bemerkte, daß er nicht mehr gesammelt genug war, um weiterzulesen.
    So kam es, daß Stephan sich den zweiten Teil der Geschichte ausnahmsweise einmal bewußt anhörte. Zunächst lauschte er mit unbestimmter Unruhe, dann jedoch mit klopfendem Herzen. Die Schäferstunde im Heu ließ ihn kalt, überhaupt das Schicksal der Schäferin, ihre Qualen und Demütigungen. Er hatte das Gefühl, daß sie nicht wirklich litt, denn sie stand ja vor ihm und bügelte und war unverwundet und stark. Anders erging es ihm mit Konrad, der schon mitten im Verderben stand, als er im Schuppen die Agnes liebte, während der blaue Zipfel über seinem Kopf zu sehen war. Am meisten aber klopfte sein Herz, als sich die Stimmung im Dorf langsam gegen Konrad wandte. Und als er darüber nachdachte, wie Konrad zumute gewesen sein mußte, als auch er herausbekommen hatte, daß das Dorf nicht mehr Agnes, sondern ihn als Ausgestoßenen behandelte, fiel ihm plötzlich ein Satz ein, der eine große Angst in ihm aufkommen ließ.
    Stephan dachte auf einmal: »Alle wußten es.« Und es war, als ob seine Angst schon vorher dagewesen sei und nur auf dieses Zeichen gewartet habe, um richtig auszubrechen. Während Stephan dachte: »Alle wußten es«, vergaß er Konrad und das düstere Dillenhausen und verlor sich in seinem Satz, als sei er wie ein Menetekel mit unbarmherzigem Finger an den Himmel geschrieben worden. Wie dies Wort über der Welt hing, gewann es zahllose Bedeutungen. Es traf auf jeden zu, der es erkannte, und |122| Stephan hatte es erkannt und wußte, daß er betroffen war. Vor der Gewalt dieser Einsicht war die Frage bedeutungslos, was es denn Schreckliches war, was alle wußten, und Stephan stellte sie sich

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