Das Bienenmaedchen
Es stand zwar kein Name darauf, aber irgendwie wusste sie, wer er war. Der junge Mann sah ihrem Großvater Gerald sehr ähnlich, aber er war nicht Gerald. Es musste Rafe sein.
In den vergangenen drei Monaten hatte Lucy versucht, aus den Nachforschungen ihres Vaters schlau zu werden. Am Ende hatte sie mehr über Tom Cardwell in Erfahrung gebracht als über seinen Onkel Rafe.
»Hast du von Rafe gewusst?«, fragte sie ihre Mutter, als sie sie im März an einem Wochenende besuchte.
Nach der Scheidung hatte sich Gabriella in ein kleines Cottage in Nord-Norfolk zurückgezogen, wo sie große abstrakte Leinwandgemälde schuf, die sich nicht verkauften, und konventionellere Seestücke, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Gabriella wirkte glücklicher und gelassener als in den Monaten zuvor. Lucy fragte sich, ob ein Mann namens Lewin, dem eine Kunstgalerie im Ort gehörte und den Gabriella im Gespräch immer wieder erwähnte, etwas damit zu tun hatte. Wenn es so war, dann war sie froh darüber. Gabriella Cardwell war noch keine sechzig und verdiente ein bisschen Glück.
»Nein, dein Vater war ziemlich verschlossen«, sagte Gabriella und streichelte ihre schöne langhaarige Tigerkatze. »Ganz anders als Lewin. Wir sprechen über alles.« Lucy war diese Art der Argumentation vertraut. »Dein Vater war puritanisch erzogen, weißt du. Diese elitären Internate sind für so vieles verantwortlich, und was seine Mutter betrifft … Oh, ein Albtraum – total besitzergreifend! Ich habe sofort gewusst, was sie über mich dachte. Aber trotz all unserer Differenzen waren Tom und ich glücklich miteinander, Lucy. Wirklich sehr glücklich!« Sie sah ihre Tochter bittend an.
»Ich weiß, Mum«, sagte Lucy leise.
»Erst als deine Granny gestorben ist und du uns dann verlassen hast, um aufs College zu gehen – nicht dass ich dir die Schuld gebe, Liebling, natürlich nicht. Da erst hat er sich verändert und wurde furchtbar schwermütig. Aus Kummer, vermute ich. Aber wir hätten das trotzdem durchgestanden, wenn nicht dieses Weibsstück aufgetaucht wäre!« Sie wandte ihren Blick nach Süden, als könnte sie Helena, die angespannt in ihrem nichtssagenden Zuhause in Suffolk saß, selbst über diese Entfernung hinweg mit ihrem zornigen Blick versengen.
Lucy versuchte, beim Thema zu bleiben. »Und er hat seinen Onkel Rafe nie erwähnt?«, fragte sie.
»Nicht mit einem Wort. Grandad Gerald ging es zum Schluss nicht besonders gut, und was er sagte, ergab nicht viel Sinn. Ich erinnere mich, dass er als Kind in Indien gelebt hat – ich hab dir ja schon erzählt, dass ich ein wunderschönes Jahr im Aschram verbracht habe, bevor ich deinen Vater kennenlernte. Von einem jüngeren Bruder habe ich nie etwas gehört.«
Als sie sich an dieses Gespräch erinnerte, legte Lucy das Foto und die Notizen beiseite. Sie nahm ihre Tasche und die Kamera und ging die Treppe hinunter. Sie wollte sich in dem Städtchen umsehen. Cara, die im Eingangsbereich mit Staubsaugen beschäftigt war, nickte Lucy aufmunternd zu, als diese sich von einem Stapel auf dem Empfangstresen einen kostenlosen Stadtplan für Touristen nahm.
Lucy spazierte durch verwinkelte Straßen und schaute sich den Hafen an, wo sie den stechenden Geruch von Öl, Farbe und nassen Tauen einatmete und sich vorzustellen versuchte, wie es hier wohl zwischen den Kriegen ausgesehen haben mochte. Jedenfalls nicht so wie auf einer Postkarte. Kein »Spindrift«-Geschenkladen und keine »Surf Girls«-Boutique mit plärrender Popmusik. Wahrscheinlich war es eine ganz normale Stadt gewesen, mit Lebensmittelläden und einem Bäcker, mit Pensionswirtinnen und Fischernetzen, die in der Sonne trockneten. Die Pfarrkirche war wohl noch immer die gleiche. Bestimmt gab es ein paar Gedenkstätten, aber wohl keinen richtigen Friedhof. Als Lucy die Eichentür der Kirche öffnen wollte, stellte sie fest, dass sie verschlossen war.
Das kleine Museum, an dem sie in einer der Gassen vorbeikam, hätte sie interessiert. Aber dem Aushang auf der Tür war zu entnehmen, dass es mittags zwischen zwölf und zwei geschlossen war – sie war ein paar Minuten zu spät gekommen.
Schließlich kaufte sie sich zum Mittagessen eine Tüte Chips und einen Müsliriegel. Sie setzte sich auf die Kaimauer, schaute sich die Umgebung an und komponierte in Gedanken ein paar Fotos. Eine innere Ruhe überkam sie, und sie dachte darüber nach, dass sie sich mit diesem Ort verbunden fühlte, obwohl sie nicht hier geboren war. Niemand
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