Das Bienenmaedchen
wusste, dass sie hier war – außer Will natürlich –, und niemand stellte irgendwelche Ansprüche an sie.
Die Boote im Hafen zogen ihren Blick auf sich. Die Flut kam rasch, und ein halbes Dutzend kleiner Schiffe tanzte sicher und geborgen innerhalb der Umfassungsmauern. An einem Anlegesteg vertäute ein braun gebrannter, breitschultriger junger Mann sein Segelboot. Ein ganz besonders schönes Schiff, dachte Lucy, mit seiner weißen Kabine und einem Rumpf, der genau in dem blassen Blau eines Rotkehlchen-Eis angestrichen war. Eine sehr passende Farbe – das Boot trug den Namen Early Bird . Lucy fand, dass es das perfekte Motiv für den Vordergrund einer Aufnahme vom Hafen abgeben würde.
Als das Boot gesichert war, beobachtete sie, wie der Mann hineinstieg und sich daranmachte, es abzudecken. Sie wusste überhaupt nichts über Boote, aber ihr gefiel die Vorstellung, auf Wind und Wellen zu reiten und den Elementen nahe zu sein. Der Mann zog eine Abdeckung über das Kabinendach und befestigte sie, warf sich dann einen Seesack über die Schulter und schlenderte über den Anlegesteg auf sie zu. Als er an ihr vorüberging, lächelten sie sich an. Er hatte kurzes rötlich braunes Haar, blaue Augen mit blonden Wimpern und ein kräftiges, offenes Gesicht.
Sie aß den Müsliriegel auf und ließ die Verpackung in einen Abfallkorb fallen. Also gut, sie wusste zwar nicht, was sie hier tun sollte, aber irgendwas würde sich ergeben, da war sie sicher. Das Licht war perfekt. Sie machte sich daran, ein paar Fotos zu schießen.
Das Saint-Florian-Museum machte um zwei wieder auf. Als Lucy hineintrat, schaute ein Mann mit grauem Bart auf – er steckte Touristik-Informationsbroschüren in einen Drehständer – und begrüßte sie.
»Hallo«, sagte sie. »Ich würde mich gern mal umschauen.«
»Tun Sie das«, antwortete er und sah sie über seine Brille hinweg an. »Deshalb sind wir ja hier. Der Eintritt ist kostenlos – wir sind auf Spenden angewiesen.« Er wies auf eine Sammelbüchse auf dem Tresen. »Es gibt bloß zwei Räume. Wir waren übrigens früher ein Süßwarengeschäft.«
Lucy kramte ihr Portemonnaie heraus und ließ ein paar Münzen in die Büchse fallen. Sie konnte sich die Regale im Erkerfenster leicht voller Gefäße mit Süßigkeiten vorstellen – jetzt prangten dort hübsche Steine und Muschelschalen. Außerdem gab es eine kleine Auswahl von Erinnerungsstücken aus dem Zweiten Weltkrieg: eine Gasmaske, eine Lebensmittelkarte und einen Teddybären, der einem evakuierten Kind gehört hatte.
»Möchten Sie irgendetwas Spezielles sehen?«, erkundigte sich der Museumsdirektor. »Die Ausstellung über den Krieg ist im hinteren Raum, und da drüben haben wir ›Das Leben eines viktorianischen Fischers‹ als Frühjahrsausstellung. Die Leute bringen uns dauernd Sachen, deshalb ändert sich bei uns häufig der Schwerpunkt.«
»Haben Sie vielleicht irgendwas über Carlyon?«
»Das alte Herrenhaus?«, fragte er. »Sie wissen, dass es jetzt nur noch eine Ruine ist?«
»Ja, es ist so traurig. Was ist passiert?«
»Das Feuer? Ich glaube, es war kurz nach dem Krieg. Weshalb interessiert Sie das?«
»Meine Großmutter ist dort aufgewachsen. Bevor sie geheiratet hat, hieß sie Angelina Wincanton.«
»Sie war eine Wincanton? Also, der Name war mal sehr bekannt hier in der Gegend. Ich dachte, die Familie wäre ausgestorben.«
»Das sind sie auch – so gut wie«, erklärte Lucy mit einem kläglichen Lächeln. »In meiner Generation gibt es noch ein paar Cousins und Cousinen zweiten Grades in Neuseeland, die ich noch nie gesehen habe – und mich. Ich heiße übrigens Lucy. Lucy Cardwell.«
»Ich bin Simon Vine«, sagte er. »Ich hab wirklich nicht viel über das Haus, um ehrlich zu sein, aber vielleicht gibt es etwas im Lagerraum. Wonach genau suchen Sie denn?«
»Wirklich alles, was mit den Wincantons zu tun hat.«
»Lassen Sie uns mal nachschauen«, sagte Simon. »Ich überlege gerade, wen ich kenne, der Ihnen helfen könnte, aber es fällt mir keiner ein … Ah! Da war eine Frau, die kürzlich reingekommen ist – wie zum Teufel hieß sie noch? Warten Sie einen Augenblick, ich sehe nach.«
Er verschwand im hinteren Raum, und Lucy hörte, wie sich eine Tür öffnete. Sie folgte dem Mann, um sich die Ausstellung über den Krieg anzusehen. Es gab noch mehr Dinge wie die, die sie im Fenster gesehen hatte: alte Kleidergutscheine, einen Brief von einem Soldaten an seine Freundin, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von
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