Das Bienenmaedchen
einem Beobachtungsposten aus Beton. Dahinter sah man einen Strand, der von spiralförmigem Stacheldraht übersät war.
Nach ein paar Minuten kam Simon Vine mit zwei flachen Holzkästen mit Glasdeckeln zurück. »Hier, bitte schön«, sagte er und stellte sie vor Lucy auf dem Tisch ab.
»Oh«, entfuhr es Lucy. »Wie merkwürdig!« Jeder Kasten enthielt Reihen von Insekten, die mit Nadeln auf Kork festgesteckt waren: Schmetterlinge, deren Flügel so farbenfroh gemustert waren wie an dem Tag, als man sie befestigt hatte – verschiedene Arten von Motten und ein riesiger Käfer. Alles war sorgfältig mit winzigen Papierstreifen etikettiert.
»Und wie könnte mir das weiterhelfen?«, fragte Lucy.
»Diese Frau hat sie vor ein paar Monaten gebracht. Sie sagte, sie hätte sie als junges Mädchen hier in der Gegend gefangen. Wir haben hier also eine Momentaufnahme der Naturgeschichte aus den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, was ziemlich faszinierend ist. Ich denke, sie könnte Ihnen ein paar nützliche Geschichten erzählen. Ich hab ihren Namen und ihre Adresse irgendwo aufgeschrieben.« Er nahm ein DIN-A4-großes Heft aus einer Schublade des Tresens und fing an zu blättern.
»Manchmal laufen wir uns zufällig über den Weg. Ich kann mir ihren Namen nicht merken, aber sie erinnert sich immer an meinen, obwohl sie bestimmt schon über achtzig ist. Warten Sie!« Er sah auf das Etikett, das auf einem der Kästen klebte, und blätterte ein paar weitere Seiten um. »Hier haben wir’s. Mrs Beatrice Ashton. Und das Haus ist an der Straße, die zum Klippenpfad führt. Diese Frau kann Ihnen bestimmt etwas über diesen Ort vor dem Krieg erzählen.«
»Beatrice Ashton?« Hatte sie richtig gehört?
»Ja. Ich sage Ihnen was … Wohnen Sie im Moment in Saint Florian?«
»Ja, im ›Mermaid‹.«
»Was halten Sie davon, wenn ich heute Abend auf dem Heimweg mal bei ihr vorbeischaue und sie frage, ob sie Sie treffen möchte.«
Lucy verließ das Museum und seinen Direktor und konnte ihr Glück kaum fassen. Beatrice Ashton. Der Name war bestimmt kein Zufall. Wer konnte sie sein? Rafes Frau oder irgendeine andere Verwandte? Lucy hatte sich Simon Vines Wegbeschreibung zu Mrs Ashtons Haus sorgfältig notiert, obwohl sie innerlich aufgewühlt war.
Sie verbrachte den Rest des Nachmittags damit, das Städtchen zu erkunden, bevor sie zum Hotel zurückkehrte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, an einem Samstagabend allein zu sein und nichts Bestimmtes vorzuhaben. Als sie wieder in ihrem Zimmer war, legte sie sich einen Moment hin und nahm dann ein frühes Abendessen in der Hotelbar zu sich. Sie erkundigte sich bei Cara, aber es gab keine Nachricht von einer Mrs Ashton. Nach einem letzten Blick auf den Hafen ging sie früh zu Bett und vertiefte sich in ein Buch.
Um halb zehn rief Will an. »Oh, du hast ja da doch ein Netz!«, sagte er. »Ich hab’s schon mal versucht.«
»Wann warst du zu Hause?«, fragte sie.
»Gegen fünf. Hör mal, Lucy, ich mach mir Sorgen um dich. Ich hätte dich nicht so zurücklassen sollen.«
»Vermutlich ist dir nichts anderes übrig geblieben. Und es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen – wirklich nicht.« Sie erzählte ihm von dem möglichen Treffen mit Beatrice Ashton, aber er hörte ihr nicht zu.
»Wie lange willst du bleiben?«, fragte er.
»Weiß ich nicht, Will, ich weiß es noch nicht.«
Er gab ein ungehaltenes Schnauben von sich. »Gut, sag mir Bescheid, dann komm ich runter und hole dich ab.«
»Brauchst du nicht. Das wäre total anstrengend. Ich kann mit dem Zug fahren.«
»Ich bestehe darauf, Lucy!«
»Ernsthaft, Will, ich möchte es nicht.«
»Ich ruf dich morgen an«, sagte er. »Mal sehen, wie du vorankommst.«
Als er aufgelegt hatte, spürte sie, dass sie wütend war. Sie konnte selbst auf sich aufpassen. Warum machte er das? Sie wollte diesen Druck nicht, sie fühlte sich dadurch eingeengt. Sie biss sich auf die Lippe und dachte nach. Dann schaltete sie das Telefon ab – für den Fall, dass er noch mal anrief.
KAPITEL 4
In der Ferne hörte Lucy den Schrei eines Vogels. Sie hatte eine Flucht von steilen Steinstufen erklommen und blieb oben stehen, um Luft zu holen. Dabei lauschte sie dem Klang der sonntäglichen Kirchenglocken. Sie entdeckte The Rowans, das Haus von Beatrice Ashton, gegenüber an dem Berghang, halb von einer Ligusterhecke verdeckt. Hoch oben glitt eine Möwe in langsamen, rhythmischen Bögen dahin. Wieder kreischte der Vogel – es klang wie eine
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