Das Bienenmaedchen
sich das Kreuzworträtsel oben befand. All diese Dinge wie auch der Reisewecker auf dem Kaminsims waren vermutlich schon lange an ihrem Platz. Aber es gab auch Hinweise auf Veränderungen. Ein digitales Telefon lag in seiner Ladeschale, und auf dem Couchtisch nahe den tanzenden Flammen sah Lucy ein Tablett, auf dem statt Teetassen Henkelbecher standen, und eine Teekanne mit einem modernen Blumenmuster. Manches hatte auch etwas Exotisches: eine orthodoxe Ikone auf dem Kaminsims und afrikanische Holzschnitzereien. Ein abstraktes Gemälde leuchtete wie ein Kleinod in einer Nische.
»Es war mein Zuhause, als ich noch ein Kind war. Mein Vater hat es mir hinterlassen, als er vor einigen Jahren starb, und später habe ich meinen Mann verloren. Es war an der Zeit, hierher zurückzukehren, Lucy.« Mrs Ashton sah hoch in Lucys Gesicht, und die junge Frau fand Zähigkeit in ihren Augen – und Schmerz. »Erzähl mir, warum du gekommen bist.«
»Es ist wegen meines Vaters, Tom Cardwell. Ich weiß nicht, ob Sie ihn überhaupt kennen, aber er war ein Wincanton. Er … er ist vor Kurzem gestorben.«
»Ich weiß«, flüsterte Beatrice. »Deine Großtante hat es mir mitgeteilt. Allerdings erst vor ein paar Monaten.«
»Tante Hetty? Also kennen Sie die Wincantons. Mrs Ashton, Sie müssen irgendwas mit Rafe zu tun haben. Ich hab versucht, etwas über ihn herauszufinden. Mein Vater war sehr an ihm interessiert, wissen Sie. Und ich habe keine Ahnung, warum.«
Beatrice nickte ernst. »Ich kann dir alles erzählen. Ich möchte dir die Dinge wirklich erklären, aber das ist nicht leicht. Dein Auftauchen hier – es ist ein Schock.«
»Das tut mir leid«, sagte Lucy zerknirscht. Sie war inzwischen völlig verwirrt. »Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen irgendwelche Probleme zu bereiten.«
»Das weiß ich. Keine Sorge, meine Liebe. Diese Situation ist nicht durch dich entstanden.«
»Sie haben mich gefragt, ob ich mich an Sie erinnere. Also, das tue ich nicht, jedenfalls nicht wirklich. Aber es klingt so, als hätten Sie meinen Vater gekannt.«
Mrs Ashton starrte aus dem Fenster, als schaue sie auf etwas jenseits des Gartens. Schließlich sagte sie: »Ich habe Tommy als Baby gekannt. Danach hab ich … den Kontakt zu deinen Großeltern verloren.« Sie runzelte ihre Stirn und fügte mit einiger Anstrengung hinzu: »Bis zur Beerdigung von Angelina. Ich habe dich dort gesehen.«
Aus ihrem Gesicht sprach eine solche Qual, dass Lucy fragte: »Mrs Ashton, geht es Ihnen gut?«
»Ja, ja, natürlich geht es mir gut.« Plötzlich lächelte sie Lucy an. »Und nun bist du hier: Toms Tochter. Meine Liebe, es ist ganz erstaunlich, dass du Angelinas schönes Haar hast.«
»Danke«, sagte Lucy. »Mum ist auch blond. Die Leute haben immer gewitzelt, dass Dad spät geheiratet habe und dann eine Frau, die aussähe wie seine Mutter. Mum hat das gehasst.«
»Das ist auch nicht die Art von Witz, die ich lustig finden würde.«
»Nein, genau.«
»Es muss ein furchtbarer Schock gewesen sein, Tom zu verlieren. Das war es schon für mich, doch viel schlimmer musste es für dich sein. Dein Vater …«
»Mrs Ashton, ich bin ein bisschen verwirrt. Woher kannten Sie meine Großmutter? Und Rafe. Tut mir leid, wenn das irgendwie unhöflich klingt, aber in meiner Familie hat nie jemand von Rafe gesprochen, und ich weiß nicht, warum. Aber vor seinem Tod hat mein Dad eine Zeitlang versucht, etwas über Rafe herauszufinden.«
»Rafe war mein Mann.«
»Oh. Und die Wincantons – woher kennen Sie die? Es tut mir so leid, falls ich unverschämt klinge, wenn ich Ihnen all diese Fragen stelle.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Beatrice mit trauriger Stimme. »Du hast jedes Recht, sie zu stellen. Ich bin der Familie Wincanton hier in Saint Florian begegnet, als wir alle Kinder waren.« Sie lächelte, und Lucy konnte sie sich plötzlich als junges Mädchen vorstellen. »Ich habe Rafe das erste Mal am Strand gesehen.«
Am Strand. Lucy erinnerte sich an ein Foto von Mädchen an einem Strand in Grannys Karton und an das Bild vom Krocket mit den vier Wincanton-Kindern und dem schlanken dunklen Mädchen. Nun kam ihr der Gedanke, dass dieses Mädchen Mrs Ashton gewesen sein könnte.
»Damals hieß ich Marlow«, sagte Beatrice. »Warum setzen wir uns eigentlich nicht?«
Sie ließ sich am Feuer auf einem Sessel nieder, der dem Garten zugewandt war, und Lucy nahm ihr gegenüber Platz. Das war wirklich eines der sonderbarsten Gespräche, die sie in ihrem Leben geführt
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