Das Bienenmaedchen
»Früher hieß ich Beatrice Marlow. Eine Freundin der Familie.«
Sie sah, wie sich sein Gesicht veränderte. Er wusste es, das erkannte sie sofort. Er wusste, wer sie war!
Mit allergrößter Anstrengung gelang es Tom Cardwell, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Mrs Ashton. Vielleicht möchten Sie mitkommen und gleich einen Kaffee mit uns trinken? Irgendjemand kann Sie bestimmt mit zum Hotel nehmen.«
»Ich bin mit meinem eigenen Wagen hier«, erwiderte sie, aber Tom hatte sich schon wieder abgewandt.
»Tante Hetty«, hörte sie ihn sagen, als sie weiterging.
»Was für eine Schande, dass mein Bruder Peter sich nicht herbemüht hat.« Hettys Worte waren klar und deutlich zu verstehen.
»Es ist ein langer Weg von New York, Hetty, und soweit ich weiß, geht es ihm gesundheitlich nicht gut.«
»Jedenfalls braucht er nicht damit zu rechnen, dass wir bei seinem Begräbnis aufkreuzen.« Sie gab ein schnaubendes Lachen von sich.
»Also, ich weiß nicht«, sagte Tom.
Beatrice gesellte sich zu den anderen Trauergästen und bewunderte mit ihnen die Kränze, die auf dem Boden ausgelegt waren. Lucy und ihre Mutter Gabriella standen ein Stück weit vor ihr.
»Oh, das ist alles so … furchtbar!«, rief das Mädchen leidenschaftlich und fing an zu weinen. Gabriella versuchte, ihre Tochter zu beruhigen.
Beatrice beobachtete, wie die beiden die Kapelle verließen und in den Garten gingen. Es sah so aus, als sollte sie auch mit ihnen nicht sprechen. Niemand redete mit ihr. Sie war eine Fremde … Nein, schlimmer noch: ein Geist.
Das alles raubte ihr völlig den Mut. Sie beschloss, Toms Einladung auszuschlagen und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.
Später quälte sie sich damit herum, dass sie so feige gewesen war. Wenn Hetty sie nicht gewarnt hätte – wer weiß, was sie vielleicht zu Tom gesagt hätte und was daraus geworden wäre. Vielleicht war es besser, die Wahrheit weiterhin ruhen zu lassen. Wem würde es nutzen, wenn alles ans Licht käme? Womöglich nur ihr selbst. Aber hatte ihre Mutter sie nicht immer eindringlich ermahnt, bei der Wahrheit zu bleiben? Eine Lüge führt zu einer größeren Lüge, hatte sie immer gesagt.
Dabei war es am Anfang nicht Beatrice’ Lüge gewesen, sondern die von Angelina.
KAPITEL 1
Cornwall, April 2011
» Bitte , Will!«
»Lucy, wir sind sowieso schon zu spät dran! Wenn ihr Mädels nicht so lange zum Packen gebraucht hättet …«
»Auf der Karte ist es nicht weit – schau mal.«
»Kann ich nicht, wenn ich fahre, oder?« Wills Augen waren auf die Straße vor ihm geheftet.
»Gleich kommt ein Schild nach Saint Florian«, sagte Lucy. »Ich hab’s dir gezeigt, als wir hergefahren sind, erinnerst du dich? Oh, Will, es sind nur ein paar Meilen bis zur Küste. Komm schon, bitte! Ich hab doch gesagt, dass ich gerne dahin fahren würde.« Sie gab sich Mühe, nicht gereizt zu klingen.
»Und wir waren die ganze Woche mit anderen Dingen beschäftigt. Willst du mir das etwa vorwerfen?«
»Ich werfe dir gar nichts vor. Ich möchte einfach nur mal da an die Küste.«
»Hör zu, Lu. Wir fahren ein anderes Mal hin, was hältst du davon? Jon hat vorgeschlagen, dass wir im Sommer wiederkommen.« Als Zeichen, dass die Diskussion für ihn beendet war, tippte Will auf eine Taste am Lenkrad. Rockmusik dröhnte durch das Auto und erstickte jede Möglichkeit zum Gespräch.
Lucy fuhr auf der Karte mit dem Finger die zitterige Linie der Küste von Cornwall entlang, die Schmugglerbuchten und wilde Landzungen verhieß, und fragte sich im Stillen, ob sie noch einmal herkommen würden. Jon und Natalia, das andere Paar, hatte sie kaum näher kennengelernt. Sie waren Freunde von Will, und auch mit ihm war sie noch nicht sehr lange zusammen. Sie sah ihn verstohlen von der Seite an, und ihr Pessimismus wuchs. Dieses mürrische Gesicht setzte er inzwischen immer häufiger auf, wenn sie sich stritten. Er war siebenundzwanzig wie sie. Mit seinen längeren Haaren und dem attraktiven Dreitagebart hatte er in London lässig auf sie gewirkt, offen für neue Ideen. Es hatte sich herausgestellt, dass er alles andere war als das. Und was seine Freunde betraf, so war Jon wie Will davon besessen, den besten Surfstrand zu finden, und Natalia vom Shoppen. Lucy war die Einzige, die bereit gewesen war, die Klippen zu Fuß zu erkunden, wenn mehr als ein Regentropfen fiel. Aber als die Neue in der Gruppe hatte sie sich den Plänen der anderen fügen müssen.
Weitere Kostenlose Bücher