Das Bienenmaedchen
sodass der Wagen entschlossen in Richtung Heimat wies, und stieg ein. Als Will den Motor anließ, stellte sie sich plötzlich vor, wie sie den ganzen Weg nach London neben ihm sitzen, der scheppernden Musik lauschen und über den verdammten Dokumentarfilm sprechen würde, an dem er arbeitete, während sich das noch unbesuchte Städtchen Saint Florian weiter und weiter entfernte.
Sie fuhren an den Föhren mit den Saatkrähennestern vorbei, und Will blinkte nach links, fort von Saint Florian. Eine verrückte Idee kam ihr in den Sinn. Es war ja nicht so, dass sie unbedingt an diesem Tag nach Hause musste.
»Will«, sagte sie, »halt an und lass mich raus.«
Er zögerte. »Lucy, bitte! Ich möchte wenn möglich irgendwann heute heimkommen.«
»Ich komme nicht mit.«
»Was?« Sein Gesicht war vor Fassungslosigkeit erstarrt.
»Schau – ich habe noch eine Woche«, erklärte sie ihm. »Ich wollte eigentlich nur mit Fotos herumspielen, vielleicht ein paar rahmen lassen, aber das kann ich jederzeit machen. Also hab ich beschlossen hierzubleiben. Ich möchte mir Saint Florian in Ruhe anschauen und herausfinden, ob es jemanden gibt, der mir etwas über Carlyon und meine Familie erzählen kann.«
»Das ist lächerlich! Wo willst du wohnen? Das kannst du doch nicht einfach so entscheiden.«
Sie rollte die Augen. »Ich werde schon was finden.« Sie griff nach ihrer Handtasche und der Kamera. »Danke, Will. Für alles. Es war fantastisch.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen raschen Kuss, dann öffnete sie die Tür. Er saß da wie gelähmt und sah sie nicht an. »Machst du bitte den Kofferraum auf? Ich brauche meinen Koffer.«
Er wandte den Kopf, sah sie mit besorgtem, unglücklichem Gesicht an und sagte: »Das ist einfach nur dumm! Hör zu, ich sag dir jetzt was: Ich fahre dich runter nach Saint Florian, wenn es dir so ernst damit ist. Und dann kommst du mit mir zurück.«
Es war nicht nur der Ton seiner Stimme, der sie auf die Palme brachte, sondern auch die Tatsache, dass er keinerlei Interesse an diesem Abenteuer hatte.
»Das musst du nicht – wirklich nicht. Ich kann zu Fuß gehen. Bitte mach den Kofferraum auf.«
»Lucy …«
»Ich will das auf eigene Faust machen.« Das wusste sie jetzt.
Einen Augenblick später stand sie mit ihrem Koffer am Straßenrand und sah ihm nach, als sein Wagen davonraste.
»Leb wohl, Will«, flüsterte sie.
Die Frühlingssonne wärmte ihren Rücken, während sie, den Koffer hinter sich herziehend, den Hügel hinuntermarschierte – direkt auf das Städtchen zu.
KAPITEL 2
Drei Monate zuvor
Eigentlich hätte Lucys Vater Tom eine Reise nach Saint Florian unternehmen sollen, als er noch lebte. Aber er hatte sich dagegen entschieden, und so machte sie es nun für ihn.
Angefangen hatte das Ganze an einem Nachmittag Mitte Januar mit einem Besuch bei ihrer Stiefmutter Helena in Suffolk. Helena hatte Lucy gebeten, aus London herüberzukommen, weil sie Toms persönliche Dinge sortiert hatte und ihr einige Sachen geben wollte.
Während Lucy ihren Mietwagen durch die karge Landschaft von East Anglia steuerte, spürte sie ihren Gefühlen nach. Wirklich seltsam, dass sich an der Abneigung, die sie schon immer gegen Helena hegte, seit dem Tod ihres Vaters bei einem Autounfall im letzten Juni nichts geändert hatte. Wenn überhaupt, war die Ablehnung nur noch stärker geworden. Sie hatte Mitleid mit ihrer Stiefmutter, das schon. Jeder, der Helenas erschöpftes Gesicht sah und ihre Angewohnheit, ständig die Hände zu ringen, merkte, dass sie Tom sehr geliebt hatte und um ihn trauerte. Aber Lucy konnte ihrer Stiefmutter nicht verzeihen, dass sie ihr den Vater weggenommen hatte. Und es war ihr auch nicht recht gewesen, dass Helena, die zweite Frau und Nachzüglerin in Tom Cardwells Leben, die Hauptrolle bei den Formalitäten nach seinem Tod übernommen hatte. Als Toms Ehefrau hatten sie Helena – nicht Lucy oder Lucys Mutter Gabriella – ins Krankenhaus gerufen, als das Autowrack gefunden worden war. Und es war Helena gewesen, die sich um das Begräbnis gekümmert hatte. Da es kein Testament von Tom gab, hatte Helena die Aufteilung seines Vermögens übernommen, Lucy allerdings problemlos das ihr rechtlich zustehende Erbe zugestanden.
Was Lucy zusätzlich zu ihren eigenen verworrenen Gefühlen belastete, war der heftige Kummer ihrer Mutter. Als Tom starb, war es für Gabriella Cardwell, als hätte er sie noch einmal verlassen, und sie fand keinen Trost in der Tatsache, dass »die
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