Das Bienenmaedchen
sagen, aber Lucy fragte sich ernsthaft, ob eine Freundschaft möglich wäre. Helena war fast dreißig Jahre älter als sie, und was, um Himmels willen, hatten sie schon gemeinsam?
»Dein Vater war sehr lieb zu mir. Er hat so verloren und unglücklich ausgesehen, als wir uns kennengelernt haben. Er brauchte mich.«
Warum? Lucy hätte sie das gerne gefragt, aber dazu war sie zu stolz. Ein Bild kam ihr in den Sinn: ihre Mutter, hemmungslos weinend, als Lucys Vater sie verlassen hatte – das fleckige Gesicht, das Haar krauser denn je. Helena war immer gleichmütig und beherrscht, wenn man einmal von dem Händeringen absah. Weshalb hatte ihr Vater diese stille, farblose Frau gebraucht?
Der Schlüssel dazu lag irgendwo in der Vergangenheit. Als er nach dem Tod von Lucys Großmutter damit angefangen hatte, die Schachteln mit ihren Papieren und Erinnerungen durchzusehen, hatte sich Tom sehr verändert. War das normale Trauerarbeit, oder hatte er etwas in ihren Habseligkeiten gefunden, das ihm zu schaffen machte? Lucy verstand das alles noch immer nicht ganz. Ihr Vater war ein äußerst zurückgezogener Mann mit einem ausgeprägten Sinn für Stolz und Tradition gewesen und hatte selten über seine Gefühle gesprochen. Dennoch war er immer warmherzig und liebevoll gewesen, und Lucy konnte sich nicht erklären, weshalb er seine Bindungen durchtrennt hatte und aufgebrochen war, um noch einmal von vorn anzufangen.
***
Nachdem Helena ihr geholfen hatte, die Kartons nach draußen zum Auto zu tragen, tranken sie in dem beigefarbenen Wohnzimmer Tee aus zerbrechlichen Tassen.
»Sollen wir nach oben gehen und uns da umsehen?«, fragte Helena dann.
Oben in dem Haus gab es einen luftigen Raum, in dem sich Tom, kurz nachdem sie das Cottage vor sechs oder sieben Jahren gekauft hatten, ein Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Während Helena die Lampen anknipste und dann an der klemmenden Jalousie herumhantierte, sah Lucy sich um. Es war der einzige Ort im Haus, wo sie noch die Anwesenheit ihres Vaters spürte. Sein verwaschenes marineblaues Sweatshirt hing an der Rückseite der Tür und wurde wahrscheinlich bei den Sachen für die Wohlfahrtsorganisation vermisst. Ihr Vater war auch dort in den geordneten Buchreihen und dem alten Mahagonischreibtisch vor dem Fenster, durch das Lucy auf winterliche Felder blickte, die langsam in der Dämmerung versanken.
Ein Foto, das unter den Schreibtisch gefallen war, erregte ihre Aufmerksamkeit. Lucy hob es auf. Das Bild zeigte die ersten fünfzehn Spieler der Rugbymannschaft von der Schule ihres Vaters, das hübsche, erwartungsvolle Gesicht des damals Achtzehnjährigen in der vorderen Reihe. Lucy suchte es nach Vorzeichen des eher finsteren, introvertierten Mannes ab, zu dem er sich schließlich entwickeln sollte, fand jedoch keine. Sie stellte das Foto auf den Schreibtisch neben dem Computer und einem weiteren Karton.
»Ach ja«, sagte Helena, »den da solltest du auch mitnehmen. Es ist hauptsächlich Zeug von deiner Großmutter.«
Lucy klappte den Karton auf und schaute hinein. Ganz oben lag ein gelbes Ringbuch, und als sie es aufschlug, sah sie Notizen in der kleinen, eleganten Handschrift ihres Vaters: Listen mit Daten, Schaubilder mit Pfeilen und ein Verweis auf ein Buch über den D-Day, den Tag, als die Alliierten im Zweiten Weltkrieg in der Normandie landeten. Militärgeschichte also – das war alles. Enttäuscht nahm sie das Ringbuch heraus. Darunter fand sie eine große viereckige Blechdose, in der ursprünglich Kuchen oder Kekse gewesen waren. Lucy hob den Deckel an, auf dem das Bild von einem Garten prangte, und roch den Duft von Rosen. In der Dose lagen verschiedene Andenken. Lucy schloss den Deckel wieder. Vor Helenas Augen wollte sie sich das nicht anschauen.
»Was soll ich mit den Büchern machen?«
Helena stand vor den Regalen und richtete eine Reihe alter Schulchroniken mit verzierten Buchrücken gerade. Sie sah aus, als ob sie hier oben fehl am Platz wäre. Toms Arbeitszimmer war seine eigene Welt gewesen. Hier hatte er viele Stunden lesend in dem großen Sessel verbracht und am Schreibtisch gesessen, um zu schreiben oder auf Websites von Antiquariatsbuchhändlern zu stöbern.
»Ich würde sie bloß nehmen, weil sie Dad gehört haben«, erwiderte Lucy, »und ich hab einfach keinen Platz in meiner Wohnung.«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Nein. Kannst du es nicht in diesem Laden in der Hauptstraße versuchen?«
»Das wäre wahrscheinlich das Beste.«
Helena sah sich im
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