Heldenstellung
Crash Management
An der Garderobe gebe ich mein bisheriges Leben ab. Die Frau hinter der Holztheke deutet auf das Gepäcklabel: »Ach, Berlin-Tegel?«, fragt sie im Plauderton. »Aus dem neuen Flughafen ist ja nix geworden. Ich frage mich, wie man eine so wichtige Sache vermasseln kann.«
»Ach, das ist ganz einfach«, sage ich aus Erfahrung und reiche ihr meinen Trolley.
Die Garderobiere mustert mich. »Habe ich Sie hier schon mal gesehen?«
»Kann sein, ist aber ein Weilchen her.« Ich schaue zu dem durchgesessenen Hocker an der Wand. Weil ich nicht weiterrede, wendet sie mir den Rücken zu und räumt meinen Rollkoffer zu den anderen. Ja, sie kommt mir auch bekannt vor, und ja, ich fühle mich gegen meinen Willen bei ihr geborgen. So geht es mir seit frühester Kindheit mit allen Garderobieren. Diese hier könnte gut meine Mutter sein: Anfang sechzig vielleicht, ihr Haar trägt sie bereits in kurzer fliederfarbener Omawelle, über dem Busen baumelt die randlose Brille am falschen Goldkettchen. Sie betrachtet ihre kleine Trolleysammlung mit eigentümlichem Stolz. »Jetzt habe ich fünfmal Berlin, zweimal München und wieder zehnmal Köln-Düsseldorf. Dabei ist das ein Transitflughafen, da weiß ich gar nicht, woher die Leute kommen.«
Ihre Probleme hätte ich gern. Dafür kann sie meine haben.
»Wollen Sie noch etwas abgeben?« Ich sehe an mir herunter: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schmale Krawatte – das alles hatte ich für die Filmpremiere gekauft. Mein Gewissen, das wäre ich noch gern los, denn ich bin aus keinem ehrenwerten Grund in diesem ehrenwerten Club.
Die Garderobiere zückt eine Liste. »Wie ist Ihr Name?« Ich seufze. »Der steht da nicht drauf. Mein Besuch soll eine Überraschung sein.« Sie geht zu meinem Trolley herüber, setzt ihre Brille auf, greift sich den Adressanhänger und liest ab: »Frederick von Schnaidt.« Mit einem Mal stutzt sie, lacht ungläubig auf, murmelt den Namen erneut, dreht den Adressanhänger, als stünde auf der Rückseite vielleicht ein anderer Name, und sieht erstaunt zu mir herüber. »Das Garderobenkind?«
Ich nicke traurig.
»Und ich dachte immer, es gäbe Sie in Wirklichkeit gar nicht«, sagt sie mit ungläubiger Stimme. »So wie den neuen Berliner Flughafen.« Sie zwinkert mir munter zu und streckt ihre Hand aus: »Ich bin Marie, willkommen zuhause.«
»Na ja«, sage ich, aber Marie bedeutet mir, mich nicht von der Stelle zu rühren. Sie schiebt Mäntel und Jacken beiseite. Dahinter kommt ein Bilderrahmen zum Vorschein. Vorsichtig nimmt sie ihn von der Wand und legt ihn auf den Garderobentresen: Eine Kollage aus etwa zwanzig Fotos von einem Jungen, der auf diesem Hocker zwischen all den Klamotten sitzt. Die Ärmel, Schals und Seidenblousons haben das Bild über die Jahrzehnte sauber gehalten. Auf dem ältesten Foto ist er vielleicht drei Jahre alt, auf dem neuesten ein Teenager. Mein Herz macht einen Hüpfer, knickt blöd um und stürzt die tiefe Schlucht zu meiner Seele herunter.
Der Junge bin ich. Mal nehme ich einen Mantel von der Garderobe oder falte Schiffchen aus roten Abholzetteln, aber auf den meisten Fotos sitze ich trotzig auf dem Hocker und halte ein Magazin in der Hand. Superman, Batman, einmal sogar die Financial Times – allerdings falschrum.
Mein Vater hat mir oft Superheldencomics gekauft. Früher dachte ich, er wollte einfach, dass ich lesen lerne. Heute weiß ich, dass es ihm um etwas anderes ging. Ich sollte sehen, dass die Guten immer auf die Nase kriegen. Die Schurken dagegen hatten die schönsten Frauen, das meiste Geld und die größte Freiheit, weil sie nicht in so einfältigen Kategorien wie Gut und Böse dachten. Mein Vater ist so ein Schurkentyp: einer der besten Unternehmensberater Deutschlands. Und einer der schlechtesten Väter.
Marie schaut zwischen dem Bild und mir hin und her.
»Sie müssen heute um die dreißig sein.«
Ich nicke. Wir haben Ende Juli, ich bin noch ein halbes Jahr lang neunundzwanzig. Ein halbes Jahr, das hoffentlich sehr schnell vorbeigeht. »Kann ich jetzt bitte meinen Garderobenzettel bekommen?«
»Ach, die Nummer können Sie sich doch bestimmt merken«, meint sie glucksend. »Bei Ihrer Erfahrung! Ich hatte Sie mir übrigens kleiner vorgestellt. Und Sie sehen Ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich.«
»Sind wir uns auch nicht.«
» Noch nicht.«
»Wie bitte?«
Die Garderobiere hebt den Zeigefinger. »Sie sind sich noch nicht ähnlich. Früher oder später werden wir alle so wie unsere
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