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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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unfruchtbaren Zukunft entgegengingen. Hinter ihnen lag der Garten Eden, üppig und voller Blumen. Ein
Engel mit Flügeln stand vor der geschlossenen Pforte, das
Schwert in seiner Hand erstrahlte in einem schrecklichen
Licht.
    »Wage es nicht, es so zu sehen!« schrie sie plötzlich, und
der Mann, der neben der Tür saß, zuckte so heftig zurück,
daß er fast sein Schild fallenließ. »Wage es nicht!«
    »Herrje, tut mir leid!« sagte der Mann mit dem Schild und
verdrehte die Augen. »Gehen Sie weiter, wenn Sie so denken.«
»Nein, ich … nicht wegen Ihnen … ich dachte an meinen …«
Da wurde ihr bewußt, wie absurd das war, was sie da tat einem Bettler, der an der Tür eines Busbahnhofs saß, ihre
Situation erklären zu wollen. Sie hielt immer noch zwei
Dollar in der Hand, das Wechselgeld des Taxifahrers. Sie
warf sie in die Zigarrenkiste neben dem jungen Mann mit
dem Schild und floh hastig in die Portside Schalterhalle.
8
    Ein anderer junger Mann - mit einem dünnen - Errol FlynnBärtchen und einem hübschen, wenig vertrauenerweckenden Gesicht
- hatte im hinteren Teil der Schalterhalle ein
Spiel, das sie aus Fernsehshows als Drei-Karten-Monte
kannte, auf seinem Koffer aufgebaut.
    »Wollen Sie das Pik As finden?« fragte er. »Wollen Sie das
Pik As finden, Lady?«
In Gedanken sah sie eine Faust auf sich zurasen. Sah einen
Ring am dritten Finger, einen Ring mit den eingravierten
Worten Hilfsbereitschaft, Loyalität und Kameradschaft.
»Nein, danke«, sagte sie. »Damit hatte ich noch nie Probleme.«
Als sie an ihm vorbei ging, zeigte sein Gesichtsausdruck,
daß er dachte, sie hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank,
aber das machte nichts. Er war nicht ihr Problem. Ebensowenig der Mann am Eingang, der vielleicht Aids hatte, vielleicht auch nicht, oder der Mann mit der Geschwulst am Hals
und der Micky-Maus-Puppe, die aus seinem Seesack ragte.
Ihr Problem war Rose Daniels - Korrektur, Rosie McClendon -, und das war ihr einziges Problem.
Sie ging den Mittelgang entlang, blieb aber stehen, als sie
einen Abfalleimer sah. Ein knapper Befehl - HALLE SAUBERHALTEN! - stand auf seinem runden grünen Bauch
geschrieben. Sie klappte die Handtasche auf, holte die BankCard heraus, betrachtete sie einen Moment und schob sie
dann durch die Klappe der Tonne. Sie gab sie nur ungern her,
war aber gleichzeitig erleichtert, daß sie sie losgeworden
war. Wenn sie sie behielt, konnte sie der Versuchung vielleicht nicht widerstehen, sie erneut zu benützen … und Norman war nicht dumm. Brutal, ja. Dumm, nein. Sie wäre gut
beraten, wenn sie das nicht vergaß.
Sie holte tief Atem, hielt ihn eine oder zwei Sekunden an,
ließ ihn entweichen und ging zu den ANKUNFT/ABFAHRT-Monitoren in der Mitte des Gebäudes. Sie drehte sich
nicht um. Hätte sie es getan, hätte sie den jungen Mann mit
dem Errol-Flynn-Oberlippenbärtchen gesehen, der den Abfalleimer schon danach durchsuchte, was die verschrobene
Lady mit der Sonnenbrille und dem roten Halstuch weggeworfen hatte. Für den jungen Mann hatte es wie eine Kreditkarte ausgesehen. Wahrscheinlich nicht, aber das konnte
man nie mit Sicherheit sagen, wenn man nicht nachsah. Und
manchmal hatte man Glück. Manchmal? Verdammt, oft. Man
nannte es nicht umsonst das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
9
    Die nächste größere Stadt im Westen war nur zweihundertfünfzig Meilen entfernt, was ihr zu nahe vorkam. Sie entschied sich für eine noch größere, fünfhundertfünfzig Meilen
weiter. Es war eine Stadt an einem See, wie diese, aber in der
nächsten Zeitzone. In einer halben Stunde fuhr ein Continental Express dorthin ab. Sie ging zu den Fahrkartenschaltern
und stellte sich an. Das Herz schlug ihr heftig in der Brust,
und ihr Mund war trocken. Kurz ehe die Person vor ihr mit
ihrer Transaktion fertig war und den Schalter freigab, hielt
sie den Handrücken vor den Mund und unterdrückte ein
Rülpsen, das brennend in ihr aufstieg und nach dem Kaffee
von heute morgen schmeckte.
    Wage es nicht, hier eine der beiden Versionen deines Namens zu
verwenden, ermahnte sie sich. Wenn sie einen Namen wollen,
mußt du ihnen einen anderen nennen.
    »Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?« fragte der Schalterbeamte und sah sie über eine Halb-Brille an, die prekär auf seiner Nasenspitze balancierte.
    »Angela Flyte«, sagte sie. Es war der Name ihrer besten
Freundin in der Junior High School, die letzte Freundschaft,
die sie geschlossen hatte. An der Aubreyville High School
war Rosie fest mit dem Jungen gegangen, der

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