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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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was das noch
für eine Rolle spielte. Er würde so oder so wütend werden.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    »Brauchen Sie noch lange, Ma’am?« fragte eine Stimme
hinter ihr. »Meine Kaffeepause ist nämlich gleich vorbei.«
»Oh, tut mir leid!« sagte sie und zuckte etwas zusammen.
»Nein, ich war nur … in Gedanken.« Sie drückte die
BESTÄTIGEN-Taste. Die Worte BITTE WARTEN leuchteten
auf dem Monitor des Automaten auf. Die Wartezeit dauerte
nicht lange, aber lange genug, daß sie sich vorstellen konnte,
wie die Maschine plötzlich einen schrillen, heulenden Sirenenton von sich geben und eine mechanische Stimme bellen
würde: »DIESE FRAU IST EINE DIEBIN! HALTET SIE AUF!
DIESE FRAU IST EINE DIEBIN!«
Aber statt sie eine Diebin zu nennen, ließ der Monitor ein
DANKESCHÖN aufleuchten, wünschte ihr einen angenehmen Tag und spie siebzehn Zwanziger und einen Zehner
aus. Rosie schenkte dem jungen Mann hinter ihr ein nervöses
Lächeln ohne Blickkontakt, dann eilte sie wieder zum Taxi
zurück.
7
    Portside war ein flaches, weiträumiges Gebäude mit schlichten, sandsteinfarbenen Wänden. Alle möglichen Busse
-
nicht nur Greyhounds, auch Trailways, American Pathfinders, Eastern Highways und Continental Expresses
-
umringten die Schalterhalle und bohrten die hohen, platten
Gesichter tief in die Ladebuchten. Für Rosie sahen sie wie
Chromferkel aus, die an einer außerordentlich häßlichen
Mutter saugten.
    Sie stand vor dem Haupteingang und sah hinein. Die
Schalterhalle war längst nicht so überfüllt, wie sie halb
gehofft (Sicherheit in der Menge) und halb befürchtet hatte
(da sie vierzehn Jahre lang fast niemanden, außer ihrem
Mann und den Kollegen gesehen hatte, die er manchmal
nach Hause brachte, hatte sie mehr als nur einen Anflug von
Agoraphobie entwickelt), wahrscheinlich weil es mitten in
der Woche war und die nächsten Ferien vor der Tür standen.
Trotzdem schätzte sie, daß sich rund zweihundert Leute
drinnen aufhalten mußten, die ziellos herumschlenderten,
auf altmodischen Holzbänken mit hohen Lehnen saßen,
Videospiele spielten, Kaffee in der Snackbar tranken oder
wegen Fahrkarten anstanden. Kleine Kinder hielten die
Hände ihrer Mütter umklammert, legten die Köpfe zurück
und blökten wie verirrte Kälber zu dem verblaßten Holzfällerfresko an der Decke hinauf. Ein Lautsprecher, der hallte wie
die Stimme Gottes in einem Filmepos von Cecil B. DeMille,
verkündete Ziele: Erie, Pennsylvania; Nashville, Tennessee;
Jackson, Mississippi; Miami, Florida (die körperlose, hallende Stimme sprach es Miamuh aus); Denver, Colorado.
»Lady«, sagte eine müde Stimme hinter ihr, »he, Lady, eine
milde Gabe. Eine milde Gabe, was meinen Sie?«
    Sie drehte sich um und sah einen jungen Mann mit blassem Gesicht und einer Fülle schmutziger schwarzer Haare,
der mit dem Rücken an einer Mauer des Bahnhofsgebäudes
saß. Er hielt ein Pappkartonschild im Schoß. OBDACHLOS
& AIDSKRANK, stand darauf. BITTE UM HILFE.
    »Sie haben doch was Geld übrig, oder nicht? Helfen Sie
mir? Sie wern noch mit Ihrem Schnellboot auf dem Saranac
Lake rumbrausen, wenn ich längst tot bin. Okay?«
    Plötzlich fühlte sie sich seltsam und schwindlig am Rand
einer geistigen und emotionalen Überlastung. Das Schaltergebäude schien vor ihren Augen zu wachsen, bis es so groß
wie eine Kathedrale war, und die Flutwellen der Menschen
in den Gängen und Alkoven etwas Gräßliches bekamen. Ein
Mann, an dessen Hals seitlich ein runzliger, pulsierender
Fleischsack hing, stapfte mit gesenktem Kopf an ihr vorbei
und zog einen Seesack an seiner Kordel hinter sich her. Der
Sack zischte wie eine Schlange, während er über den schmutzigen Fliesenboden rutschte. Eine Micky-Maus-Puppe ragte
aus der Öffnung des Seesacks heraus und grinste sie blind
an. Der gottgleiche Sprecher verkündete den versammelten
Reisenden, daß der Trailways-Eilbus nach Omaha in zwanzig Minuten von Tor 17 losfahren würde.
    Ich kann das nicht, dachte sie. Ich kann nicht in dieser Welt
leben. Es geht nicht nur darum, daß ich nicht weiß, wo die Teebeutel und Putzlappen sind; die Tür, hinter der er mich geschlagen hat,
ist auch die Tür, die dieses Chaos und diesen Wahnsinn ferngehalten hat. Und ich kann sie nie wieder passieren.
    Einen Augenblick sah sie vor ihrem geistigen Auge ein
erstaunlich klares Bild der Sonntagsschule ihrer Kindheit Adam und Eva mit Feigenblättern und identischen Mienen
von Scham und Elend, wie sie barfuß einen steinigen Pfad
einer bitteren,

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