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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Wacholderbüschen, und sie verspürte einen kurzen Schauder von deja vu, als hätte sie diesen
Weg schon einmal in einem fast vergessenen Traum gesehen.
Er deutete zum Grat der Anhöhe hinauf und sprach mit
leiser Stimme. »Da gehen wir rauf. Sei so leise du kannst.«
Er wartete, bis sie in die Turnschuhe geschlüpft war, dann
ging er vor. Oben angekommen, blieb er stehen und wartete
auf sie, und als sie bei ihm war und etwas sagen wollte, legte
er ihr erst den Finger auf die Lippen und zeigte dann mit ihm
auf etwas.
Sie befanden sich am Rand einer kleinen, mit Gestrüpp
bewachsenen Lichtung, einer Art Aussichtspunkt, fünfzehn
Meter über dem See. In der Mitte lag ein umgestürzter Baum.
Unter dem Wirrwarr der erdverkrusteten Wurzeln lag eine
schlanke rote Füchsin, die drei Jungen säugte. In der Nähe
war ein viertes im Sonnenlicht damit beschäftigt, seinen
eigenen Schwanz zu jagen. Rosie beobachtete sie entzückt.
Er beugte sich näher zu ihr, und sein Flüstern kitzelte sie
am Ohr, daß sie erschauerte. »Ich bin vorgestern hergefahren, um festzustellen, ob das Picknickgelände überhaupt
noch existiert und noch so schön ist. Ich bin ein bißchen rumgelaufen und hab die Burschen hier gefunden. Vulpes fulva der Rotfuchs. Die Jungen dürften um die sechs Wochen alt
sein.«
»Wieso weißt du soviel über sie?«
Bill zuckte die Achseln. »Ich mag Tiere, das ist alles«, sagte
er. »Ich lese über sie und versuche, sie in freier Wildbahn zu
beobachten, wenn ich kann.«
»Jagst du?«
»Großer Gott, nein. Ich mach nicht mal Fotos. Ich beobachte nur.«
Jetzt hatte die Füchsin sie gesehen. Ohne sich zu rühren,
wurde sie eher noch stiller; ihre Augen waren hell und wachsam.
Sieh sie nicht direkt an, dachte Rosie plötzlich. Sie hatte
keine Ahnung, was dieser Gedanke bedeuten sollte; sie
wußte nur, daß sie nicht ihre eigene Stimme in ihrem Kopf
hörte. Sieh sie nicht direkt an. Der Anblick ist nichts für deinesgleichen.
»Sie sind wunderschön«, hauchte Rosie. Sie nahm seine
Hand zwischen ihre beiden.
»Ja, das sind sie«, sagte er.
Die Füchsin drehte sich zu dem vierten Jungen um, das
seinen Schwanz mittlerweile in Ruhe ließ, dafür aber auf seinen eigenen Schatten sprang. Sie stieß ein kurzes, schrilles
Bellen aus. Das Junge drehte sich um, betrachtete die Neuankömmlinge am Ende des Wegs mit frechem Blick, trottete
zu seiner Mutter und legte sich neben sie. Sie leckte ihm den
Kopf und putzte es rasch und gekonnt, ließ Rosie und Bill
aber dabei nicht aus den Augen.
»Hat sie einen Mann?« flüsterte Rosie.
»Ja, hab ich auch schon gesehen. Ein ziemlich großer
Rüde.«
»Nennt man sie so?«
»Hm-hmm, Rüden.«
»Wo steckt er?«
»Irgendwo in der Gegend. Auf der Jagd. Die Kleinen
bekommen wahrscheinlich eine Menge Möwen mit gebrochenen Flügeln zum Essen angeschleppt.«
Rosies Blick wanderte zu den Wurzeln des Baums, unter
denen die Füchse ihren Bau hatten, und das Gefühl von deja
vu kam wieder über sie. Das Bild einer sich bewegenden
Wurzel, die nach etwas zu greifen schien, kam ihr kurz in
den Sinn, flackerte und erlosch wieder.
»Machen wir ihr angst?« fragte Rosie.
»Vielleicht ein wenig. Wenn wir näher hingehen würden,
würde sie kämpfen.«
»Ja«, sagte Rosie. »Und wenn wir ihnen was tun würden,
würde sie es uns vergelten.«
Er sah sie seltsam an. »Nun, wahrscheinlich würde sie es
versuchen, ja.«
»Ich bin froh, daß du sie mir gezeigt hast.«
Sein Lächeln ließ sein ganzes Gesicht erstrahlen. »Gut.«
»Gehen wir wieder zurück. Ich will ihr keine Angst machen. Außerdem habe ich Hunger.«
»Einverstanden. Ich auch.«
Er hob eine Hand und winkte feierlich. Die Füchsin sah
ihnen mit ihren strahlenden, stillen Augen nach… dann runzelte sie die Schnauze zu einem lautlosen Knurren und ließ
eine Reihe spitzer weißer Zähne sehen.
»Ja«, sagte Bill. »Du bist eine gute Mutter. Paß auf sie auf.«
Er wandte sich ab. Rosie wollte ihm folgen, aber dann sah
sie noch einmal in diese strahlenden, stillen Augen. Die
Füchsin hatte immer noch die Zähne gefletscht, während sie
im Sonnenschein ihre Jungen säugte. Ihr Fell war mehr
orange als rot, aber seine Schattierungen - der schroffe Kontrast zu dem Grün ringsum - ließ Rosie irgendwie erschauern. Eine Möwe flog über ihnen dahin, deren Schatten über
die struppige Lichtung glitt, aber die Füchsin ließ Rosie nicht
aus den Augen. Rosie spürte ihren Blick, wachsam und
zutiefst konzentriert in seiner Stille, auch noch, als sie

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