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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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durch ausgedehnte Schattenflächen flogen; warm,
wenn sie wieder in die Sonne kamen. Bei sechzig Meilen pro
Stunde kamen die Gerüche wie in Kapseln - so konzentriert,
als wären sie aus Düsentriebwerken abgefeuert worden:
Kühe, Mist, Heu, Erde, gemähtes Gras, frischer Asphalt, als
sie eine Baustelle passierten, Dieselabgase, als sie hinter
einem Kleinlaster herfuhren. Ein Hundemischling lag auf
der Pritsche des Lasters, Kopf auf den Pfoten, und betrachtete sie desinteressiert. Als Bill auf einem geraden Streckenabschnitt zum Überholen ansetzte, winkte der Farmer am
Steuer Rosie mit der Hand. Sie konnte die Krähenfüßchen
um seine Augen herum sehen, die rote, rissige Haut auf seiner Nase, das Funkeln seines Eherings im Sonnenschein.
Vorsichtig wie ein Hochseilartist, der einen Trick ohne Netz
vorführt, zog sie eine Hand unter Bills Arm hervor und
winkte zurück. Der Farmer lächelte ihr zu und blieb hinter
ihnen zurück.
Als sie zehn oder fünfzehn Meilen von der Stadt entfernt
waren, deutete Bill auf ein funkelndes Metallgebilde am
Himmel. Einen Augenblick später konnte sie das einförmige
Hämmern der Rotoren des Helikopters hören, und wieder
einen Moment später zwei Männer in der Plexiglasblase sitzen sehen. Als der Hubschrauber mit einem tosenden Luftzug über sie hinwegrauschte, konnte sie erkennen, wie der
Passagier sich zum Piloten beugte und ihm etwas ins Ohr
brüllte.
Ich kann alles sehen, dachte sie, und dann fragte sie sich, was
daran so erstaunlich sein sollte. Sie sah nichts, das sie nicht
auch aus einem Auto gesehen hätte. Aber gewiß doch, dachte
sie. Ich sehe mehr, weil ich es nicht durch eine Scheibe hindurch
sehe, und damit ist es mehr als nur Szenerie. Es ist die Welt, keine
Szenerie, und ich gehöre dazu. Ich fliege über die Welt, wie früher
in meinen Träumen, aber jetzt bin ich nicht allein.
Der Motor pulsierte konstant zwischen ihren Beinen. Es
war nicht gerade ein sexuelles Gefühl, aber es machte ihr
deutlich bewußt, was sie da unten hatte, und wozu es da war.
Wenn sie nicht die Landschaft bewunderte, betrachtete sie
fasziniert die kurzen dunklen Haare in Bills Nacken und
fragte sich, wie es sein würde, sie mit den Fingern zu
berühren und glattzustreichen wie Gefieder.
Eine Stunde, nachdem sie den Skyway verlassen hatten,
befanden sie sich in ländlicher Umgebung. Bill schaltete die
Harley in den zweiten herunter, und als sie zu einem Schild
mit der Aufschrift PICKNICKGELÄNDE »SHORELAND«
CAMPING NUR MIT GENEHMIGUNG kamen, schaltete er
in den ersten und bog auf einen Kiesweg ab.
»Halt dich fest«, sagte er. Jetzt, wo der Wind nicht mehr
wie ein Hurrikan durch ihren Helm wehte, konnte sie ihn
deutlich hören. »Schlaglöcher.«
Es gab Schlaglöcher, aber die Harley meisterte sie mühelos
und verwandelte sie in bloße Vertiefungen. Fünf Minuten
später fuhren sie auf einen kleinen, aus der Erde gestampften
Parkplatz. Dahinter lagen Picknicktische und gemauerte
Grillplätze auf einer ausgedehnten, schattigen grünen Wiese
verstreut, deren sanftes Gefalle zu den Felsklippen hinabführte, die man nicht ganz als Strand bezeichnen konnte.
Dahinter erstreckte sich der See bis zum Horizont, aber die
Linie, wo sich Wasser und Himmel trafen, verschwand in
blauem Dunst. Shoreland war menschenleer, abgesehen von
ihnen, und als Bill die Harley ausmachte, verschlug die Stille
Rosie den Atem. Möwen kreisten über dem Wasser und rie fen mit ihren hohen, schrillen Stimmen zum Ufer. Irgendwo,
weit entfernt im Westen, konnte man Motorenlärm hören,
aber so leise, daß nicht auszumachen war, ob es sich um
einen Lastwagen oder einen Traktor handelte. Das war alles.
Er schob mit der Stiefelspitze einen flachen Stein zu dem
Motorrad, dann klappte er den Ständer so herunter, daß er
auf dem Stein stand. Er stieg ab, drehte sich zu ihr um und
lächelte. Als er ihr Gesicht sah, wich das Lächeln einer
besorgten Miene.
»Rosie? Alles in Ordnung?«
Sie sah ihn überrascht an. »Ja, warum?«
»Du siehst so merkwürdig aus …«
Kann ich mir vorstellen, dachte sie. Kann ich mir nur zu gut
vorstellen.
»Alles bestens«, sagte sie. »Mir ist nur, als wäre dies alles
ein Traum, mehr nicht. Ich frage mich immer, wie ich hierhergekommen bin.« Sie lachte nervös.
»Aber du wirst nicht ohnmächtig, oder so was?«
Diesmal lachte Rosie weniger gekünstelt. »Nein, mir geht
es wirklich gut.«
»Und es hat dir gefallen?«
»Prima.« Sie machte sich am Gurt des Helms zu schaffen,
allerdings ohne großen

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