Das blaue Buch - Roman
auch anderen gestatten, darüber zu lachen. Du bestehst nicht auf deiner Würde, du bist nicht spießig oder kratzbürstig, außer aus gutem Grund, und darum bist du auch entspannende Gesellschaft. Wer dich kennt, würde das sagen, wenn man ihn fragte.
Und die du kennst, die Menschen, die dir etwas bedeuten – bei denen können Fehler schwerer wiegen. Falsche Schritte können so wehtun, wenn man gerade erst anfängt, sich wichtig zu werden, wenn du noch empfindlich bist, deine Lage nicht kennst, wenn etwas Außergewöhnliches zerstört werden könnte, ehe du es erreichst. Aber wahrscheinlich ist es noch schlimmer, wenn du das liebst, wirklich liebst, was du hast, und du trotzdem blind hineintreten und es kaputtmachen könntest. Das willst du vermeiden – das würde jeder.
Doch du kommst zurecht. Auf manchen Gebieten ragst du heraus. Aus diesem und vielen anderen Gründen gibt es einiges an dir, was andere bewundern könnten. Du hast Schreckliches überlebt, doch andere Menschen könnten das übersehen, und du machst kein Aufhebens darum.
Im Herzen bist du ein guter Mensch.
Dessen bist du sicher, und dein Buch ist dessen ebenso sicher.
ES GIBT DINGE, die gute Menschen nicht tun sollten. Die meisten dieser Dinge sind wohlbekannt, als Vorschrift kodifiziert, aber man kann sicher sein, dass – mit oder ohne Gesetze, übersehen oder unbeobachtet – deine eigene Natur dich hindern würde, dich zu weit in Gefahr zu bringen.
Du würdest nicht bewusst verletzen, würdest nicht morden, nicht stehlen.
Obwohl stehlen manchmal schwer zu definieren sein kann: mehr als die dir zustehenden Pfefferminzdragees im Restaurant, Hotelseifen, Aschenbecher in Bars – manche Gegenstände können herrenlos wirken, verloren, anziehend. Das heißt nicht, dass du Geschirr aus dem Restaurant mitgehen lassen würdest, oder Lampenfassungen aus dem Hotel, oder Feuerlöscher aus der Bar – genauso wenig, wie du in einer Umkleidekabine den Spiegel abnehmen oder einen unbeachtet auf einem Stuhl liegenden Mantel greifen oder mit jemandes anderen Auto wegfahren würdest.
Du würdest keinen Menschen in Betracht ziehen, der im strengen und pedantischen Sinn zu jemand anderem als dir gehört – du würdest nicht abgleiten in Wünsche, Phantasien, Annäherungsversuche. So wie du auch keine Versicherung betrügen oder unberechtigte Sozialleistungen einfordern oder einen Teil deiner Steuern nicht zahlen würdest.
Jedenfalls nicht in inakzeptablem Maße.
Nur solche Gedanken hast du, ganz selten einmal kommen solche ganz natürlichen Gedanken. Wenn zum Beispiel der Mensch vor dir in der Bankschlange Taschen mit Geld bei sich trägt, offensichtlich eine große Menge unmarkierter Scheine, oder wenn Wachmänner an dir vorbeischlendern, mit einfachen, ordentlichen Kisten voll mit wer weiß wie viel – dann hast du diesen ganz leichten Impuls, herauszufinden, wie solider Wohlstand aussehen könnte, dich in Bezug auf dieses kleine Detail besser zu informieren – zu greifen, zu schnappen, wegzurennen.
Das soll nicht heißen, dass deine Integrität beschädigt wäre. Du hast einen Gedanken gedacht, mehr nicht.
Und vielleicht hast du auch Münzen und Banknoten von der Straße aufgehoben, oder vom Fußboden eines Geschäfts, eines Taxis, eines Busses, auf dem Parkplatz hinter einem lauten Pub – so viele Menschen sind hier stehen geblieben – von ihren Genüssen sorglos, exzentrisch, hilflos geworden – haben in Hosen- und Handtaschen nach ihren Schlüsseln gewühlt und dabei alles fallen gelassen und verloren. Das Geld gehörte nicht dir, und doch hast du es behalten. Wie ein kleines Geschenk von einem Fremden.
Aber da ging es nicht um Schuld, nicht um deine.
Und du würdest niemals einem Tier oder einem Kind Schaden zufügen. Es sei denn natürlich, um ihnen schlimmere Schmerzen zu ersparen. Und vielleicht werden Tiere bei der Herstellung deiner Nahrung erschreckt oder geopfert, auch wenn du alles tust, was man vernünftigerweise tun kann, um das zu verhindern. Du bist ganz sicher guten Willens, aber es gibt auch Ablenkungen– manchmal ist es schwer, sich für andere einzusetzen und umfassend informiert zu sein. Kinderarbeit kann sich zum Beispiel einschleichen, wo du sie nicht vermutest; sie zerstört zweifellos Leben, doch du könntest sie ohne dein Wissen unterstützen, indem du ihre Früchte erwirbst. Doch wenn du von einem jungen Menschen hörtest, der ohne angemessene Ausbildung aufwächst, der zur Arbeit gezwungen wird, der einen Finger
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