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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Worte. Geschichten von Menschen. Die Seitenzahlen sind nicht das, worauf man achtet, hätte ich gedacht. Auch wenn man sollte …«
    Der Mann drängt unvermittelt seine Hand vor und überrascht Derek so, dass dieser sie schüttelt.
    Und natürlich, ganz normal, spürt Elizabeth als Nächste den kalten, glatten Druck seiner Hand, die Wurzel seines Daumens im Herzen ihrer Handfläche. Die Haut des Mannes hat etwas überaus Nacktes, wie ein schreckliches weißes Geheimnis. Sie versucht sich einen Moment eher zu lösen, als er sie freigibt, was ihr wieder unhöflich und unduldsam erscheint. Sie sagt zu ihm: »Manche Menschen würden darauf achten.« Was eigentlich besänftigend klingen soll, aber vor allem herablassend und außerdem gemurmelt ist.
    »Viele würden nicht. Viele würden es tatsächlich nicht .« Das beim Abwenden, als er mit seinem unmerklich schleifenden, schwankenden Gang abzieht, mit dieser Ausstrahlung von Unwohlsein, dem angespannten Kopf.
    Ganz durcheinander. Verloren auf hoher See.
    Elizabeth hat vor, ihn im Auge zu behalten, zu sehen, wo er hingeht, doch dann regt sich die Schlange um sie, ein ungehaltenes Kräuseln, und bewegt sich tatsächlich mindestens einen Meter voran. In der Aufregung verliert sie den Mann vollkommen.
    »Gott schütze mich vor Amateurzauberern.« Immerhin hat der Vorfall Dereks Schmollen durchbrochen. »Immerhin scheint es jetzt mal voranzugehen …«
    Und er hat recht. Auf dieselbe mysteriöse Weise, wie sie zuvor zum Stillstand gezwungen waren, werden sie jetzt hastig durchgeschleust und können die Freuden der Plastikklappsitze und kräftigen Tees ohne Kekse vollauf genießen. Elizabeth spürt den Wunsch, eine Tüte Schokoladennüsse aus dem Automaten zu ziehen, überdenkt die Absicht noch einmal, tut nichts.
    Fügsame Blöcke Menschheit werden aus ihrem wohlmeinenden Arrest gerufen und verschwinden durch Türen, die nach öligen Triebwerken riechen, nach Treibstoff und – unverkennbar – Salzwasser.
    Fast unterwegs.
    Dieser Gedanke bedrängt sie mit Panik, ein echter, Übelkeit erregender Streifen Angst, so dass sie, als ihre Passagiergruppe aufgerufen wird, fast vom Sitz stolpert. Sie hat leichte Schwierigkeiten mit den Händen, als sie nach ihrer Tasche greift. Zur Linken hört sie Stimmen.
    »Und wenn wir zweihundertsechsunddreißig von sechshundertzweiunddreißig abziehen …? Dann haben wir …?
    »Ähm … dreihundert … sechsundneunzig …?«
    »Und drei plus neun plus sechs ist?«
    »Das macht … siebzehn?«
    »Das macht …?«
    »Oh, achtzehn. Ja. Achtzehn.«
    »Und die arme Achtzehn können wir noch nicht zufriedenlassen, oder? Die arme achtzehn. Acht minus eins?«
    »Macht sieben.«
    Beim zweiten Mal ist es weniger beeindruckend: Man spürt die Anstrengung, vielleicht tut ihr der Mann leid, mit seinem Rätsel, das keins mehr ist.
    Und vielleicht tut er dir auch leid, vielleicht spürst du Mitgefühl für sein versehentliches öffentliches Versagen. Vielleicht fändest du es unangenehm, wenn dein Buch erwähnte, wie Beth den Mann weiter beobachtet, bis er den Kopf schüttelt, den Blick von seiner Arbeit hebt und – ehe Beth es verhindern kann – ihr wieder in die Augen sieht. Er versucht eine Art Lächeln, doch plötzlich wird sein Gesicht weich, vielleicht vor Scham, und er wendet sich ab, scheint ein wenig zu versinken. Er lässt sein Buch fallen, muss sich bücken und danach tasten – nervöse Finger.
    Das ist bedauerlich für ihn, und du kannst dir vorstellen, wie er sich fühlt.
    Dir ist bewusst, wie leicht einem solche kleinen Fehler unterlaufen können.
    Es gab Augenblicke, da hast du selbst erlebt, wie Dinge danebengehen – ein Satz, der schlecht ankommt, ein schludriger Kommentar, eine verstolperte Pointe, ein knauseriger Tipp – der Versuch, zu dumm, zu klug, zu albern, zu sorglos, zu besorgt, zu frei zu sein. Du kannst dich an diese langen, hohlen Pausen erinnern, als du erkannt hast, dass du eine Stimmung falsch eingeschätzt hast, nicht aufmerksam genug gewesen, das falsche Risiko eingegangen bist.
    Du machst dir keine Sorgen wegen dieser Anlässe, jedenfalls nicht viele. Es gab ein paar Demütigungen in der Vergangenheit, die dir tatsächlich – wenn du darüber nachsinnst, dich wirklich darauf einlässt – immer noch einen merklichen Stich versetzen; diese unangenehme, klebrige Lächerlichkeit, wenn du ganz unpassend du selbst bist. Doch diese Überlegungen haben nichts Zerstörerisches, du kannst entspannt über sie lachen. Du kannst

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