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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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an der Maschine verloren hat, oder vielleicht ein Auge, dann würdest du handeln. Du würdest Beschwerde einreichen.
    Du hast Menschen verteidigt, die schwächer sind als du. Du hast erfreut festgestellt, dass du gar nicht anders kannst.
    Du hast eine große Fähigkeit zur Freundlichkeit.
    Darum spendest du auch für wohltätige Zwecke – du kannst nicht allen etwas geben, du bist nicht albern, aber du tust dein Bestes. Und es gab auch Gelegenheiten, wo du gern etwas umsonst getan hast und jede Bezahlung unerwünscht gewesen wäre, geradezu beleidigend.
    Du magst das Gefühl, wenn du helfen kannst.
    Es ist sauber.
    Du fühlst dich davon nützlich und sauber.
    Und du kannst sicher sein, dass du ehrlicher bist als die meisten Menschen.
    Und das heißt, dass du dir gern Gedanken über deine Arbeit machst, und dass es dir seltsam vorkäme, richtig schrecklich, wenn es dir passieren würde, dass du dein Geld auf unlautere Weise verdientest.
    Du würdest dich nicht freiwillig auf ein unmoralisches Unternehmen, auf kriminelles Verhalten oder Betrug einlassen.
    Also würdest du das hier nicht tun.
    Du würdest nicht in einem einigermaßen geräumigen Stadttheater (mit schlechter Akustik) stehen und zu 750 Menschen sprechen (der Saal ist heute Abend ausverkauft), nachdem du ihnen versichert hast, dass du etwas über ihre Toten weißt. Du würdest dich nicht als kontrollierbar besessen darstellen, geschüttelt von Stimmen aus begrabenen Kehlen, die in dir Fleisch geworden sind. Du würdest nicht aus dir selbst heraus in einen Raum starren, von dem andere Beobachter vielleicht denken, dass er erregend, aber auch unbestimmt melancholisch ist, und dort nach Liebesbotschaften suchen.
    Du würdest dies hier nicht tun.
    Aber dein Buch muss dir den Mann zeigen, der es tun würde.
    Diesen Mann: groß, bleich, goldenes Haupt und einen Schmerz in sich, der deutlich wird, wenn er die Hand hebt – lange Finger, zart, unruhig – und wenn er auf und ab geht, sich wiegt. Er bietet seinem – größtenteils weiblichen – Publikum einen Schmerz, der so hell leuchtet wie sein Haar, wie seine Haut im Scheinwerferlicht. Nur für sie ist er allein, für sie brennt er im kahlen Bühnenraum, und jeder vernünftige Zuschauer würde ihm helfen wollen, ihn berühren, ihm glauben wollen.
    Und nichts davon geschieht zufällig. Er ist kein Mann des Zufalls. Er ist vorbereitet. Er ist, wenn er es vermeiden kann, niemals bei Tageslicht im Freien – nächtliche Spaziergänge zu Hause und ein Sonnenschutz an seinem Homburg-Hut, wenn er auf Tour ist. Kein rotes Fleisch, niemals – kaum Fleisch, egal in welcher Form – die Ernährung auf schmale Unentbehrlichkeiten reduziert, das Minimale, so wenig Eisen, wie es zum Überleben braucht. Die Anämie verfeinert ihn, stimmt ihn ein, lässt ihn lodern.
    Denn aufs Äußere kommt es an. Jeder beurteilt das Buch nach dem Umschlag.
    Der Mann trägt einen guten Anzug, elegant, sein Geschmack wird allmählich immer teurer. Eine dezente Krawatte, die er vielleicht lockert, aber nicht ablegt. Und die Jacke bleibt an, egal was geschieht. Dunkle, feste Lederschuhe mit schönem Glanz, ein kompromissloser Aufschlag bei jedem Schritt. Dunkle Socken. Manschettenknöpfe. Hemden von eindeutiger Farbe, nichts Ablenkendes, nicht extravagant und nicht weiß – er braucht einen klaren Kontrast zu seiner Haut, muss unauffällig zeigen, dass er fast durchsichtig ist, nichts als zarte Adern und wässrige Milch. Sein Haarschnitt ist von gewisser Strenge und einem Hauch Dienstbarkeit, außerdem ist da ein Anklang von preziösen Gedanken vielleicht, von Hitze, in den Bartstoppeln, die an seinem Hals schimmern.
    Und seine Gedanken sind wenn schon nicht preziös, so doch präzise.
    Täuschung ist nur unverzeihlich, wenn sie nicht vollkommen ist. Lässt du Raum für Zweifel, für Enthüllung, schlimme Eröffnungen, dann hast du viel mehr als versagt – dann hast du eine Art verspäteten tätlichen Angriff begangen. Doch wenn du vollkommen und unentdeckt täuschst, wird niemals Vergebung gebraucht.
    Die Aufgabe des Mannes ist es, der perfekte Lügner zu sein, denn das braucht sein Publikum. Blut, Worte, Haut, Gesicht, Augen, Atem, Knochen – er muss in seiner Gesamtheit lügen. Weniger haben die Fragenden nicht verdient. Wenn er also Verwandte und Haustiere benennt, vertrauten Schmuck und Kleidung beschreibt, romantische Episoden, angenehme Unternehmungen, Geburtstagspartys, Unglücke, Gewohnheiten, Trauer, Zufälle, Streitigkeiten,

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