Das blaue Siegel
etwas in der Hand, das er zunächst für einen leeren Tabaksbeutel hielt, dann aber als die Geldbörse des offenbar mehr als dürftig besoldeten Mannes identifizierte.
Sie bogen noch um einige Ecken, bis die Sepoys offenbar glaubten, ihren Gefangenen zur Genüge irregeführt zu haben. Gowers wusste, dass er sich jetzt beinahe wieder zu ebener Erde und ziemlich genau in der nordwestlichen Ecke des Gefängnisses befand. Eine Viertelmeile hinter der hier beginnenden rückwärtigen Mauer lagen die Ruinen des alten Delhi, von Tamerlan oder sonst einem Großen der Geschichte Asiens in den jetzigen kläglichen Zustand versetzt. Dort musste ein halbwegs geschickter Mann sich eigentlich auch bei Tage gut verbergen können.
Ein niedriger, langgestreckter Saal, nicht unähnlich den englischen Schuldgefängnissen des 18. Jahrhunderts, erwartete ihn. Der erbärmliche Gestank einer eingesperrten Menschenmenge schlug ihm entgegen, und in wenigen Sekunden musste er all seine Pläne entsprechend ändern. Hier bewachten die Gefangenen einander gegenseitig, ähnlich wie damals in Andersonville. Aber dort musste man nur die eingeschleusten Spitzel und gedungenen Zuträger fürchten und war ansonsten unter den Kameraden der Nordarmee.
Hier dagegen gab es nicht einmal richtige Kriminelle, mit denen man Geschäfte hätte machen können. Stattdessen glücklose Räuber oder ungeschickte Diebe, allzu aufdringliche Bettler und tatsächlich Schuldner, gepfändete Bauern; darunter, zu seinem ungläubigen Erstaunen, auch Frauen und Mädchen, zahlreiche Kinder, Gefangene in der zweiten Generation sozusagen.
Gowers’Überraschung resultierte daraus, dass es, abgesehen von den spanischen Sklavenschiffen, in den Gefängnissen der zivilisierten westlichen Welt schon seit hundert Jahren keine Räumlichkeiten mehr gab, die Männer und Frauen sich teilen mussten. Zu wüst waren die Ausschreitungen gewesen, die dort vorgekommen waren. Hier jedoch machte das Kastensystem, das er immer noch nicht völlig durchschaut hatte, viele der Frauen ohnehin unberührbar.
Dies alles kam ihm nicht sehr entgegen, schon weil er auf den ersten Blick ein Viertel der Insassen für Spitzel hielt, die ihn, den Nasrany , den Ungläubigen, natürlich besonders im Auge behalten würden. Verbindlich lächelnd zog er deshalb die jetzt schon etwas besser gefüllte Börse des Aufsehers hervor und reichte sie dem völlig verdutzten Mann mit den Worten: »Das haben Sie wohl verloren, mein Lieber. Ich wäre Ihnen übrigens dankbar, wenn Sie in nächster Zeit den amerikanischen Konsul aufsuchen und von meiner Lage in Kenntnis setzen könnten. Es wird Ihr Schaden nicht sein.«
Dann schloss sich die kleine Tür klirrend, und John Gowers war so allein, wie es ein weißer Mann unter den gegebenen Umständen nur sein konnte.
2.
Die Jagd hatte Raksha, die Dämonin, weit weg geführt von ihrem Lager in den Hügeln über dem Fluss. Weit weg von den fetten grünen Tälern hatte sie getötet, ihren Hunger gestillt. Sie schleppte noch an den Überresten des kleinen Bocks, trug ihn für ihre Kinder, als sie es roch. Verbranntes Gras, dessen Asche,der Wind ihr entgegentrug auf dem Weg zum Fluss.
Ihr graues Haar sträubte sich, als sie immer tiefer in den üblen Wind hineinlief, den Gestank, der schnell zu Rauch wurde und ihre Sinne betäubte. Bald würde es nur noch diesen Gestank geben, würde sie nichts sonst mehr riechen können in der Welt, keine Beute und keinen Feind. Dennoch ließ sie den Bock nicht los, dessen Blut längst geronnen war in dem jämmerlich kurzen Fell und der nichts mehr von den Hügeln wusste, in die Raksha ihn trug.
Sie hatte schon einmal brennendes Gras gerochen, in ihrer Jugend, und wusste, dass es die Bauern waren, die das Land verbrannten bis an die Wurzeln, bis die Hügel kahl waren und so grau wie Rakshas Haar. Damals waren sie einfach fortgelaufen, rasch wie Schatten und weit in den Wald von Teriani hinein. Niemand war zurückgeblieben, auch die Alten nicht. Aber diesmal wusste sie, fühlte, dass ihre Kinder noch nicht so weit und schnell laufen konnten.
Als sie den Fluss sah, rot glänzend in der untergehenden Sonne, ließ sie die Beute fallen. Sie kannte das Land nicht mehr, stutzte. Ihre goldenen Augen suchten die Hügellinien, die Bäume, Merkzeichen. Das Land blieb fremd und grau in der Dämmerung. Langsam lief sie los. Hinter ihr fielen die Geier aus dem Himmel wie große Steine, stürzten sich auf den Bock, den Raksha geschlagen hatte. Sie
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