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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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kümmerte sich nicht darum, das Hacken, Reißen, das heisere Geschrei.
    Der Boden unter ihren nackten Füßen wurde heiß, brannte noch hier und da in kleinen, kriechenden Flammen. Asche drang zwischen ihre Zehen bei jedem Schritt. Dann sah sie den Schakal, der mit blutigem Maul davonschlich, den Schwanz eingeklemmt, lief, was er laufen konnte, vor Rakshas Zorn. Und nun waren die Geier auch vor ihr. Wo die Höhle gewesen war, lag die Erde in Fetzen, aufgerissen wie eine große Wunde. Hier hatten die Bauern gegraben.
    Sie vertrieb die Geier mit einigen raschen Sätzen und stand dann vor dem Festmahl der Aasfresser, der Ratten, Ameisen, die sich nahmen, was die Hunde der Bauern übrig gelassen hatten von Rakshas Kindern. Die kleinen Körper waren kalt, als sie sie anstieß, schnüffelte, leckte, wie sie es so oft getan hatte. Eines hatte verkohlte Füße, alle waren zerrissen von Zähnen, Stöcken und eisernen Klauen. Sie waren in der sicheren, tiefen Höhle erstickt, verbrannt und schließlich erschlagen worden, als sie herauskamen, ganz zuletzt, blind vor Schmerz. In der Nähe fand Raksha einen zerbrochenen Stock, frisch zugespitzt von den Bauern, aber an der Spitze blutig und zerbissen. Ihre Kinder hatten sich gewehrt bis zum Ende.
    In den Dörfern am Fluss hörten die Bauern drei Nächte hindurch einen großen Wolf heulen. Ist uns entwischt, meinten sie und lachten hinter ihren festen Mauern aus Lehm. Die Kinder zitterten. Das ist nur ein Wolf, sagten ihre Mütter und lachten über die Feiglinge. Seine Totenklage.
    Aber es war Raksha, die Dämonin, die ihr Rachelied sang.
     

3.
     
    Es war vor allem das Stillsitzen, das ihn nach fünf Tagen allmählich zermürbte. Seit er New York verlassen hatte, war er fast ständig in Bewegung gewesen. Mit der Northumberland nach Bombay. Dort in Sachen Reginald Wedderburn gut zwei Wochen lang in den höchst unterschiedlichen Kreisen, in denen der Verstorbene verkehrt hatte – von den Villen und britischen Herrenclubs auf Malabar Hill bis hinunter ins Bordellviertel Tardeo. Danach hatte ihn ein beinahe schon mittelalterlich anmutender Küstensegler nach Surat gebracht, wo er von Lady Wedderburn das vereinbarte Honorar einforderte. Dummerweise hatte er sich dort von einer angeblichen Erkrankung der Dame ein paar Tage hinhalten lassen und zu spät festgestellt, dass sie vor ihrem Gläubiger und seiner Wahrheit nach Delhi geflohen war.
    Für eine Achthundert-Meilen-Verfolgungsjagd hatte sein Geld da schon nicht mehr gereicht, nur für eine gemächlichere Reise im Ochsenkarren nach Ujjain, dann auf einem langen, schmalen Mussola oder Flussboot den Chambal hinunter bis Dholpur und von dort noch einmal fünfzig Meilen zu Fuß bis nach Delhi. Das Erlebnis dieser Reise durch das Hochland von Malwa und vor allem das dumme Gesicht der Lady, als er da plötzlich auf der Veranda ihres Landhauses stand, war jeden Schritt wert gewesen. Aber sein Geld hatte er wieder nicht bekommen und war am nächsten Tag entsprechend heftig geworden. Er hatte sogar über eine mögliche Veröffentlichung seiner Erkenntnisse über den ehrenwerten Sir Reginald gesprochen – und das hatte dem Rechtsbeistand der hartnäckigen Villenbesitzerin Lady Wedderburn, Colonel Outram, der mit einer sechsköpfigen Sepoy-Abteilung im Nebenzimmer auf der Lauer lag, für eine Inhaftnahme ausgereicht.
    Nach fünf endlosen Tagen neigte John Gowers allmählich der Auffassung zu, dass es in Delhi überhaupt keinen offiziellen Vertreter der amerikanischen Regierung gab. Damit lag er auch insofern richtig, als von der tatsächlichen Existenz eines entsprechenden Konsuls pro tempore nur wenige Eingeweihte etwas wussten. Dieser Mensch, seines Zeichens Baumwollgroßhändler, war eigentlich britischer Staatsbürger, bekleidete sein Amt allein aufgrund gewisser Handelsbeziehungen zu den früheren Südstaaten und war infolgedessen noch von Jefferson Davis ernannt und nie von seinem Posten abberufen worden. Vermutlich wäre er auch der Meinung gewesen, dass ein Yankee im Gefängnis genau dort war, wo er hingehörte.
    Der große, niedrige Raum lag nur wenig unter dem Niveau der ebenen Erde. In Kopf-, für Gowers in Brusthöhe bestand die gesamte äußere Längswand aus einer vergitterten Öffnung, die auf den westlichen Innenhof des Gefängnisses führte. Hier zirkulierte die heiße Luft, hier fand die »Fütterung« statt, indem die Wachen zweimal täglich die erhobenen Blechschüsseln, Näpfe oder auch nur die hohlen Hände der

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