Das blaue Siegel
junge Frau auf dem Apollo Bandar in Bombay vom Schiff abholte und – weil früher Morgen war – der Reigen entblößter Hinterteile am Pier, an den Wegen, in Wiesen, auf Feldern, am Straßenrand kein Ende mehr nehmen wollte. Lady Wedderburn war so rot geworden wie im Leben noch nie, und das Gefühl, unter eine Rasse besonders ungezogener Hunde geraten zu sein, hatte sie seit diesem Tag nicht mehr losgelassen. Da mochten die armen, ahnungslosen Gelehrten in England von indischer Kunst, indischer Dichtung, dem ehrwürdigen Alter der indischen Religionen schwatzen – aber was war denn, um Himmels willen, von einer Kultur zu halten, die in so vielen tausend Jahren nicht einmal ein Klosett hervorgebracht hatte?! Oder zumindest den Wunsch, eines zu benutzen?!
Womöglich beschäftigte dieser Aspekt des kolonialen Lebens die vertrocknete Lady aber nur deshalb so ausdauernd, weil sie selbst immer wieder von geradezu erschütternden Durchfällen heimgesucht wurde und – besonders in der Monsunzeit – ein gelungener Stuhlgang den Höhepunkt ihrer Tage darstellte, jedenfalls wenn Reggie nicht da war. Und Reggie war nun für immer fort!
Colonel Outram hatte an der Treppe des Gerichtsgebäudes im Schatten seiner Kutsche auf sie gewartet. Den impertinenten Amerikaner sah sie erst im Zimmer des Richters wieder. Sein Anwalt war Inder, wie konnte es anders sein. In welchem Dreck mochte er heute Morgen gehockt haben? Lady Wedderburn wünschte sich wieder einmal, dass sie England nie verlassen hätte.
7.
Kalter Januarregen trieb vor dem Wind, fegte in grauen Schleiern die Hügel hinunter über den Sund von Plymouth. Die beiden schwarz gekleideten Männer verkrochen sich, so weit es eben ging, in ihren Mänteln und zogen die Hüte tief ins Gesicht, als sie ins Boot stiegen. Dennoch vergaß der kleinere von ihnen nicht, einen langen Blick auf das zurückweichende Ufer zu werfen, das im trüben Spätnachmittag rasch verschwand.
In den Regen mischte sich nun ein Hauch von Schnee, kleine Kristalle, die auf den dunklen Ärmeln der Männer für eine Sekunde ihre Struktur behielten, bevor sie wässrig zerfielen.
»Ein scheußliches Wetter«, knurrte auf Deutsch der größere der beiden durch einen großen braunen Schal hindurch und blickte mit einer Mischung aus Verwunderung und Verachtung auf die harten roten Hände der Matrosen, die in unerschütterlich gleichmäßigem Takt das Boot ruderten. Der kleinere Mann, der zwischen Mantelkragen und Hutrand hervorlugte wie durch eine Schießscharte, zuckte nur kurz mit den Schultern.
Als sie sich den beiden Dreimastbarken näherten, übertönte ein kakofonisches Durcheinander von Befehlen, Flüchen und den ungeordneten Geräuschen verschiedener eilig ausgeführter Arbeiten allmählich das dünne, surrende Aufklatschen des Regens auf den kleinen Wellen. Schneller und höher als erwartet stieg die Bordwand des größeren der beiden Schiffe vor ihnen aus dem Wasser, die Männer stellten die Ruder auf, und die Restfahrt trug das Boot direkt unter dem verschnörkelten Namenszug entlang, ehe es mit einem dumpfen Aufschlagen sein Ziel erreichte und von oben festgeholt wurde.
»Enterprise« , sagte der kleine Mann, indem er das Wort deutsch, nämlich am Wortende betonte. »Was heißt das, Bruder Van Deurs?«
»Enterprise bedeutet so viel wie …« Der Größere überlegte kurz. »So viel wie Unternehmung, Vorhaben, kühnes Beginnen.«
Der Kapitän und sein Commander hatten sich unter Deck der Enterprise verholt, nachdem auf beiden Schiffen das Stauen in vollem Gang war. Sie waren eben mit der ersten Mahlzeit auf See fertig geworden. Das Chaos an Bord durfte sie nicht kümmern, sie mussten vielmehr zeigen, welch unerschütterliches Vertrauen sie in die Fähigkeiten ihrer Offiziere und Mannschaften hatten, jedwede Wuhling zu ordnen und jedes Problem zu meistern, selbst wenn es um die ganze Erde ging. Außerdem mussten sie »einander beriechen« und tranken sich deshalb schon zum wiederholten Mal auf eine erfolgreiche Reise zu.
Der drahtige kleine Richard Collinson, Oberbefehlshaber der Expedition, hatte in China Hervorragendes geleistet, war aber nie in der Arktis gewesen, während der rothaarige Ire McClure, Commander des Begleitschiffs, schon zweimal im Polargebiet gefahren war. Als Fähnrich mit dem berüchtigten George Back ausgerechnet auf der Terror und jetzt, gerade erst zurückgekehrt, zwei Jahre lang an Bord ebendieser Enterprise als First Lieutenant unter Sir James Ross.
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