So wie Kupfer und Gold
Kapitel 1
DAS MÃRCHEN BEGINNT
Ich hatte einen unvorstellbar reichen Patenonkel. Deshalb stand mir die Welt offen.
So lange ich mich erinnern konnte, lief mir ein wohliger Schauer den Rücken hinunter, wenn ich an ihn dachte. Er war Mythos und Magier und die Zukunftshoffnung meiner ganzen Familie â alles in einer Person. Sobald die Kutsche die letzten Meilen unserer Reise zurückgelegt hatte, würde ich ihn endlich kennenlernen â meinen Patenonkel und Vormund, Monsieur Bernard de Cressac.
Und seine Frau natürlich, aber ich neigte dazu, diese zu vergessen.
In dem dichten Wald, durch den wir gerade fuhren, hätte gut und gern das Räuberlager aus einem Märchen sein können, so undurchdringlich und finster und gespenstisch kam er mir vor. Allerdings â ich zerquetschte eine Mücke an meinem Hals und mein eigenes Blut spritzte heraus â juckte es einen in Märchenwäldern nie so und es herrschte auch keine solche Bruthitze. Der Schweià tropfte mir schneller von der Nase, als ich ihn mit dem Taschentuch auffangen konnte. Meine Locken klebten unter der Haube an meinem Kopf.
Als ich noch kleiner war, hatte mein Patenonkel mein Haar in einem Brief einmal als »kupferfarben« bezeichnet. In dem Brief hatte er eine reizende Geschichte zusammengesponnen, von einer Prinzessin mit Locken in derselben Farbe, wie ich sie hatte, so wie Kupfer und Gold â¦
M. de Cressacs letzter Brief lag in meinem SchoÃ. Das elfenbeinfarbene Papier war vom vielen Anfassen schon ganz weich. Wie immer zog sich mein Herz beim Anblick der schwarzen, schwungvollen Schrift zusammen. Als meine Familie vor wenigen Monaten den Tod meines Vaters beklagte, hatte M. de Cressac mich ohne zu zögern in sein Haus, Wyndriven Abbey, eingeladen. Er hatte geschrieben, dass er sich seinen »ernsten Pflichten« erst wieder widmen könne, wenn er mich gefragt hätte, ob ich nicht zu ihm kommen und »die Atmosphäre in der Wohnstatt eines alten Mannes« mit meiner »Gesellschaft, Jugend und Schönheit versüÃen« wolle.
Bei den letzten Worten hatte mein Bruder Harry geschnaubt.
In diesem Brief hatte M. de Cressac sich als alten Mann bezeichnet. Das passte so gar nicht zu dem Bild des Heiligen, des tapferen Kämpfers und Forschungsreisenden, das ich immer von ihm gehabt hatte. In meinen Tagträumen war dieser Held natürlich auch alt gewesen, mindestens vierzig. Er war schlieÃlich ein Freund meines Vaters. Aber ich hatte ihn mir stark und draufgängerisch vorgestellt. Na ja, bald würde ich alles wissen. Bald war mein Patenonkel keine verschwommene Fantasiegestalt mehr, sondern würde als höchst lebendige Person einen Platz in meinem Leben einnehmen.
Immer weiter schlängelte sich die Kutsche im trüben, von mattgrünen Blättern gefilterten Licht unter weit herunterhängenden Ãsten durch den Wald. Die Bäume schienen uns zu verschlucken. Meine Augen wurden müde von den gelegentlich flackernden, durchscheinenden Streifen blassen Sonnenlichts. Es wurde spät, aber offensichtlich lieà in Mississippi die Sommerhitze im Verlauf des Nachmittags nicht nach.
Wir waren sicher bald da.
Als der Wald lichter wurde, zog ich den zerknitterten Trauerschleier an meiner Haube herunter und zerrte meine langen, schmalen Ãrmel bis übers Handgelenk. Wir bogen um eine Ecke â und da stand es.
Die schiere Pracht des Gebäudes flog mich an wie ein eisiger WindstoÃ. Wyndriven Abbey ragte inmitten von ausgedehnten Rasenflächen, Gärten und Terrassen auf, als stünde es schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle. Die Zufahrt wurde immer breiter, je näher man dem gewaltigen Bauwerk kam. Auf mich wirkte es eher wie ein kleines Dorf. Die Zinnen glichen Zähnen und die vielen Türme und Türmchen spitzen Stacheln. Die untergehende Sonne färbte die Mauern rosig rot und entzündete Feuer in unzähligen Stabkreuzfenstern.
Die ganze Anlage war aberwitzig groà und düster und furchterregend. Ich liebte sie schon jetzt.
Als wir die geschotterte und von dunklen Zedern gesäumte Zufahrt hinauffuhren, kamen wir allerdings an einem Schandfleck vorbei â eine alte, knorrige Eiche mit weit herunterhängenden Ãsten stand da mitten zwischen den Zedern. Sie war überwuchert von giftigem Efeu (»Dreierblatt, reià nicht ab!«) und der Stamm war übersät mit groÃen, wulstigen Auswüchsen. Ein Schwarm Krähen
Weitere Kostenlose Bücher