Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Loyalität in der Familie sind – die Ablösung aus der Familie ist immer ein langer, manchmal ein lebenslanger Prozess. Die Idee, sich einfach so aus seiner Familie zu lösen und alles hinter sich zu lassen, ist utopisch. Zu stark sind die unsichtbaren Bande, die uns an sie fesseln, und die Wirkungsmechanismen der familiären Vergangenheit, die uns binden. In Familien, in denen kranke Loyalitätsverpflichtungen herrschen, bedeutet eine Aufkündigung des Vertrags jedoch einen Kraftakt sondergleichen und häufig auch die Zerstörung der bisherigen familiären Strukturen. Manchmal sind die Betroffenen familiären Anfeindungen ausgesetzt, so wie Inga und Karen, und der Preis, den sie für ihre Befreiung bezahlen, ist hoch. Aber der Gewinn, den sie erhalten, ist es wert: die Möglichkeit, im eigenen Leben neu anzufangen und die nächsten Generationen vor ähnlich zerstörerischen Erfahrungen zu bewahren.
Teil 4
»Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig. «
BERNHARD SCHLINK
Das emotionale Erbe – Transgenerationale Übertragungen und Wiederholungen
»Wir werden nicht einfach in unsere Familie hineingeboren, sondern in die Geschichten unserer Familie, die uns stützen und nähren und manchmal zum Krüppel machen. Und wenn wir sterben, werden die Geschichten unseres Lebens ein Teil des Bedeutungsgewebes unserer Familie.«
MONICA MCGOLDRICK , Wieder heimkommen
Tolstoi schrieb: »Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich« (Anna Karenina) . Tolstoi hatte unrecht. Auch in unglücklichen Familien lassen sich bestimmte Muster erkennen, leider sogar über Generationen hinweg. Familien sind mehr als nur Vater, Mutter, Kind. Es sind generationenalte, gewachsene Systeme mit eigenen Gesetzen, Erwartungen und Verpflichtungen. Und wir alle werden nicht nur in unsere Familien, sondern auch in ihre uralte Geschichten, Konflikte und Verletzungen hineingeboren.
Karl hat die braunen Augen und das technische Geschick seines Vaters geerbt. Wie seine Mutter liebt er Jazzmusik und dunkle Schokolade. Er hat die politisch konservative Einstellung seiner Eltern übernommen. Und deren Verlustängste. Karls Eltern waren Kriegskinder, und als ihre Familien 1945 aus Ostpreußen flüchten mussten, verloren sie alles, was sie einst besaßen. Sie haben mit ihrem Sohn nie über ihre Kindheitserfahrungen gesprochen. »Zähne zusammenbeißen, stark sein, nicht jammern«, war ihnen aufgetragen worden, und sie hielten sich daran, ihr ganzes Leben lang.
Karl ist 1965 geboren, er hat keinen Krieg erlebt, er musste nie flüchten, nie Hunger leiden, sich nie um sein Leben sorgen. Doch jeden Tag versucht er mit einem Blick auf Excel-Tabellen, in die er seine Vermögenswerte eingetragen hat, sich selbst zu versichern, dass es ihm gut geht, dass er keine Angst zu haben braucht, aber es gelingt ihm nicht. Nachrichten über einen Währungsabfall, über Finanzkrisen, über einen bevorstehenden Regierungswechsel verstören ihn. Er besitzt Aktien, Gold und Immobilien, sein Anlageberater versichert ihm, dass sein Vermögen gut angelegt sei. Wenn Karl wollte, könnte er aufhören zu arbeiten. Seine Freunde beneiden ihn, weil es ihm finanziell so gut geht. Karl jedoch hat kein Gefühl für seine finanzielle Sicherheit. Er hat Angst.
Karl ist Opfer einer sogenannten transgenerationalen Übertragung, denn er hat, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, die Gefühle seiner Eltern übernommen: »Alles könnte jederzeit weg sein« – die reale Verlusterfahrung seiner Vorfahren hat sich auch in Karls Gefühlshaushalt eingenistet.
Karls Geschichte ist kein Einzelfall. Transgenerationale Übertragungen, also die Weitergabe von Lebensthemen und unverarbeiteten Gefühlen von einer Generation an die nächste, sind keine neue Erfindung – es gibt sie, seitdem es Menschen und Familien gibt. Das emotionale Erbe unserer Familie lässt sich nicht wie eine finanziell nachteilige Erbschaft ausschlagen. Es spiegelt sich in Phantasien, Beziehungsstörungen, seelischen Erkrankungen oder unheimlichen Wiederholungen im Leben der Nachkommen wider. Manche transgenerationalen Übertragungen sind auf den ersten Blick zu erkennen, andere bedürfen einiger Detektivarbeit, bis man versteht, wer was von wem übernommen hat.
»Wie kann ich etwas fühlen oder wiederholen, was im Leben
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