Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Gericht und geben bei ihrer Begutachtung Einblick in extrem gestörte Persönlichkeiten und ein grenzenlos ineinander verquicktes familiäres System. Selbst in Haft zeigen die Täter, zuvor unauffällige, erfolgreiche Bildungsbürger, keine Einsicht in ihr Fehlverhalten. Der Vater verleugnet seine väterliche Verantwortung gänzlich und rechtfertigt seine Handlungen mit dem Satz: »Mir hat es schließlich auch nicht geschadet.«
Auch die 35-jährige Karen wurde Opfer eines transgenerationalen Missbrauchs. Karen ist als Kind von ihrem Großvater missbraucht worden. Ihr Körper hat die Übergriffe nicht vergessen, Myome, Zysten, Verwachsungen, immer wieder starke Schmerzen. Sie hat unzählige Unterleibsoperationen hinter sich. Bis heute quält sie eine Frage: Warum ihre Mutter Vera sie nicht schützte. Vera jedoch, die selbst jahrelang unter den Übergriffen ihres Vaters litt, weiß nicht, wie es sich anfühlt, sicher zu sein, denn sie hat zeit ihres Lebens den Gesetzen des Vaters gehorcht.
Als Karen zwölf Jahre ist, fangen ihre Unterleibsschmerzen an, der Großvater vergeht sich bereits seit einiger Zeit an dem Mädchen. Er setzt sie unter Druck, droht ihr, ihre Eltern ins Gefängnis und sie in ein Kinderheim zu bringen, wenn sie jemals mit irgendjemandem über die Taten spräche.
Mit 14 weigert Karen sich, den Großvater weiterhin zu besuchen. Als sie 18 Jahre alt ist, will sie ihn anzeigen. Ihre gesamte Familie hält sie zurück: ihre missbrauchte Mutter, deren missbrauchte Schwester und die schweigende Großmutter. Alle stellen sich hinter das Familienoberhaupt. »Was sollen denn die Leute denken!«, sagt Karens Tante. »Willst du unsere Familie zerstören?«, sagt Karens Mutter. Die Großmutter weicht Karen aus und schweigt, wie sie es immer getan hat. Die Opfer sind ihrem Täter gegenüber loyal. Karens Vater ist der Einzige, der zu seiner Tochter hält. Erschüttert hört er sich die Vorwürfe an, die diese gegen ihren Großvater vorbringt. Ihm wird das Ausmaß der Verbrechen klar. Er will mit Karen zur Polizei gehen und seinen Schwiegervater hinter Gitter bringen. Aber Karens Mutter verleugnet die Übergriffe, verharmlost die Vergangenheit, sie beginnt ihre Tochter für das Aufdecken der Vergangenheit zu hassen. Sie wirft ihr vor, die Familie zu »beschmutzen«.
Die Ehe von Karens Eltern zerbricht schließlich an diesem Konflikt. Als ihr Vater kurz nach der Trennung unter Alkoholeinfluss einen schweren Autounfall verursacht, an dessen Folgen er verstirbt, gerät Karens Welt vollends aus den Fugen. Sie ist mutterseelenallein, und sie fühlt sich schuldig am Tod ihres Vaters: Hätte sie geschwiegen, wäre das alles nicht passiert. Die Familie hat sie ausgestoßen und sich hinter ihre gutbürgerliche Fassade zurückgezogen, hinter der Verdrängung, Isolation und kranke Loyalitätshierarchien herrschen.
Karen bleibt allein mit ihrer Verzweiflung, die sich nach und nach in körperliche Beschwerden umwandelt. Halt bekommt sie durch ihren Jugendfreund, den sie früh heiratet. Gemeinsam mit ihm baut sie sich am anderen Ende von Deutschland ein neues Leben auf. Sie will weg von ihrer Familie, weg von den Lügen und dem Schmerz. Eine eigene Familie gründen, die Vergangenheit hinter sich lassen. Aber sie wird nicht schwanger. Ihr Körper ist vernarbt, ihre Seele auch.
Aus Verzweiflung über ihren unerfüllten Kinderwunsch beginnt sie mit Anfang 30 eine Psychotherapie bei mir. In den Sitzungen berichtet sie von den familiären Verbrechen und ihrer Ohnmacht, dass ihre Sicherheit und ihr Wohl weniger wogen als die »Ehre« des Großvaters. Erneut durchlebt sie Wut, Hass, Verzweiflung, diesmal jedoch mit einer wertschätzenden Zeugin, die ihre Wahrnehmung der Grenzüberschreitung nicht anzweifelt, sondern stärkt. Neben den Übergriffen des Großvaters hat vor allem das Verhalten ihrer Mutter eine tiefe Wunde hinterlassen. »Wie konnte sie mir das antun? Sie wusste doch, was er mit mir machen würde. Und warum hat sie mich später nicht unterstützt, ihn anzuzeigen, warum konnte sie nicht einmal auf meiner Seite stehen?«, fragt Karen sich und mich 100-mal. Die Antwort ist einfach und schwer verständlich zugleich: Weil ihre Mutter sich nicht aus ihrer Familie gelöst hat und die Loyalität zu ihrem Vater stärker wog als die Verpflichtung ihrer Tochter gegenüber.
Heute würde Karen ihren Großvater anzeigen, aber er ist mittlerweile gestorben, er kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Karen schreibt ihm
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