Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
und unsere Seele. Selbst frühe Erfahrungen aus der vorsprachlichen Zeit, die wir nicht bewusst erinnern können, sind gespeichert – in unseren neuronalen Netzwerken, in unserem Unbewussten und unserem Körpergedächtnis. Die meisten Menschen streben nach Heilung ihrer alten Wunden. Sie sehnen sich ihr Leben lang nach dem, was sie als Kind gebraucht, aber nicht bekommen haben. Sie suchen es in all ihren Beziehungen, zunächst bei ihren Partnern und später bei ihren Kindern.
Antje hat einen desinteressierten, lieblosen Vater. Während ihrer Kindheit und Jugend versucht sie, seine Aufmerksamkeit und Zustimmung zu erheischen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Das abweisende Verhalten des Vaters hinterlässt viele kleine Wunden im Selbstwertgefühl des heranwachsenden Mädchens. Sie entwickelt den Glaubenssatz: »Ich bin es nicht wert, beachtet und geliebt zu werden.« Diese negative Überzeugung überschattet auch ihre späteren Beziehungen. Als Antje erwachsen ist, verliebt sie sich immer wieder in Männer, die sie an ihren Vater erinnern. Mit ihnen erhofft sie sich ein Happy End, wird aber stattdessen stets von ihren alten Gefühlen eingeholt. Auch vermeintliche Lappalien können zu einer emotionalen Krise führen. Als Antjes neuer Freund zu einer Verabredung zehn Minuten zu spät erscheint, ist Antje außer sich: »Ich bin dir nicht wichtig! Du hast keinen Respekt vor mir!« In den zehn Minuten des Wartens haben sich ihre Verletzung und ihre Ohnmacht potenziert, weil sie sich gleichzeitig als erwachsene Frau und als Kind fühlt, das vom Vater so oft vergessen oder vernachlässigt wurde.
Jede neue Zurückweisung rührt an den alten Wunden, kindliche Gefühle vermischen sich mit aktuellen – eine explosive Mischung entsteht. Das Bild des Vaters schiebt sich immer wieder vor ihre Partner, die die Vehemenz und die Tiefe der Verletzungen nicht nachvollziehen können und finden, dass Antje übertreibt und unangemessen reagiert. Aber Antje kann nicht anders. Sie muss erst verstehen, dass es alte Gefühle sind, die sie überschwemmen, und dass sie wie in einem Zwang ihr Kindheitsdrama wiederholt – sowohl durch ihre Wahl von tendenziell spröden, zurückweisenden Partnern als auch durch die Ausrichtung ihrer emotionalen Antennen, die grundsätzlich auf Verletzung eingestellt sind.
In uns allen steckt ein bisschen Antje – wir alle versuchen, verletzende Kindheitserfahrungen in Erwachsenenbeziehungen zu heilen. Selbst wenn es kaum Ähnlichkeiten zwischen unseren Partnern und unseren Eltern gibt, gelingt es uns, ihnen Wesenszüge unserer Eltern zuzuschreiben, um unser altes Drama wiederaufleben zu lassen: Noch nie wurden wir richtig geliebt, alle wollen uns einengen, auf niemanden ist Verlass.
Letzte Rettung sind dann unsere Kinder, mit denen wir die Idealbeziehung erträumen, in der wir bedingungslos geliebt werden. Das unsanfte Erwachen folgt meist schon in den ersten Wochen nach deren Geburt, wenn wir erkennen, dass Kinder eigene Bedürfnisse haben und nicht auf die Welt gekommen sind, um unsere zu befriedigen. Wer versucht, mit seinen Kindern alte Wunden heilen zu lassen, fügt ihnen Wunden zu. Wenn Eltern zu wenig Eltern sind, dürfen ihre Kinder zu wenig Kind sein.
Studien belegen, dass Bindungserfahrungen für unser gesamtes Leben prägend sind und sogar über Generationen hinweg weitergegeben werden. Bindungsängste sind hartnäckig, und es braucht viele gute Erfahrungen in engen Beziehungen, um sich sicherer zu fühlen und alte Ängste und Misstrauen abzubauen. Wenngleich sich Bindungsschwierigkeiten durch gute Beziehungserfahrungen oder Psychotherapie reduzieren oder gar heilen lassen, gibt es für schwere Bindungsstörungen eher schlechte Prognosen und eine hohe Wahrscheinlichkeit der transgenerationalen Weitergabe.
Doch nicht nur das Maß an Bindungsfähigkeit wird transgenerational übergeben, über Bindungserfahrungen werden auch die Gefühle der Eltern auf die Kinder übertragen – im Besonderen schwere seelische Verletzungen, sogenannte Traumata, sind »hochansteckend«.
Menschen können ein Trauma erleiden, wenn sie in lebensbedrohliche Situationen geraten, wenn sie Opfer oder Zeuge von Gewalttaten werden, wenn sie Todesangst haben, die zu Hilflosigkeit, Entsetzen und tiefer Verzweiflung führt. Ein psychisches Trauma äußert sich im Verlust des Sicherheitsgefühls, mit dem Menschen sich normalerweise durch die Welt bewegen. Ein psychisches Trauma erschüttert bis ins Mark, nichts ist mehr so,
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