Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
Vom Netzwerk:
Platz im Ehebett war meistens von seinem Sohn Olaf besetzt, also legte er sich zu seiner Tochter, streichelte sie und bat sie, ihn zu befriedigen. Inga spürte, dass das, was der Vater nachts mit ihr machte, nicht richtig war, aber sie war auch verwirrt, weil er ihr sagte, dass sie so die Familie zusammenhalte, dass sie nun seine »kleine Frau« sei und dass sie helfe, ihre Mutter wieder gesund zu machen, wenn sie niemandem von ihrem Geheimnis erzähle. An den Tagen nach den Übergriffen brachte er ihr oft kleine Geschenke mit und gab ihr Geld. Als Olaf diese Zuwendungen bemerkte und eifersüchtig wurde, versuchte Inga, ihm alles zu erklären. Doch Olaf stieß sie zurück, überfordert und beschämt von Ingas Offenbarung: »Du lügst. Das glaubt dir sowieso keiner. Wehe, du erzählst jemandem davon. Du bringst Mama um, wenn sie davon erfährt. Und außerdem bist du selbst daran schuld.« So verstummte Inga und ertrug den Missbrauch, der immer weiter fortschritt und schließlich selbstverständlich wurde, viele Jahre lang. In dieser Familie wurden Verantwortungs- und Loyalitätshierarchien auf den Kopf gestellt, und so erstarrten sowohl Bruder als auch Schwester in der Umkehr ihrer Rollen: Olaf als Retter der Mutter, Inga als Geliebte des Vaters.
    Über einen langen Zeitraum missbraucht zu werden formt das Selbstbild und den Selbstwert, und so setzt sich Ingas Geschichte auch im Erwachsenenleben fort. Sie betäubt sich mit Alkohol, versucht, ihre Depressionen abzuwehren. Sie gerät an die falschen Männer, Abbilder ihres Vaters, die sie misshandeln und demütigen, sie in ihrer gefühlten Wertlosigkeit bestätigen und sie auf ein sexuelles Objekt reduzieren. Einer dieser Männer überredet sie, sich zu prostituieren. Als sie mit Mitte 20 von einem Freier vergewaltigt wird und anschließend einen Suizidversuch unternimmt, wird sie in die Psychiatrie eingewiesen. Der Alkoholentzug dauert lange, aber er bietet ihr die Chance, sich aus dem Prostituiertenmilieu zu befreien. Inga wünscht sich, irgendwann einen Mann zu finden, der sie respektiert und liebt, aber sie glaubt, dass das mit ihrer Vergangenheit nicht passieren wird. Sie hat wenig Halt im Leben und wenig Hoffnung. Mit ihrer Familie hat sie kaum Kontakt. Von Zeit zu Zeit wird Inga rückfällig und fängt wieder an zu trinken. Der letzte Rückfall wurde ausgelöst durch den Anruf ihrer Großmutter mütterlicherseits, die ihr mitteilte, dass Ingas Mutter gestorben sei: »Jetzt ist sie endlich unter der Erde, dieses Miststück. Hat immer nur Ärger gemacht. War ’ne schlechte Tochter und ’ne schlechte Mutter. Hat alle Männer verrückt gemacht, sogar ihren eigenen Vater.« Da versteht Inga, dass ihre Mutter und sie mehr verband als nur die Depressionen.
    Familiärer Missbrauch hat, wie in Ingas Familie, häufig eine transgenerationale Komponente, er gedeiht auf dem Boden dysfunktionaler Beziehungsvorbilder und in einem Klima, in dem Funktionalisierung, Entwertung, Gewalt und Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung sind. Wenn aber die Verdrängung der Vergangenheit, die Treue zu den Eltern und die Identifikation mit ihnen stärker sind als der Impuls, die eigenen Kinder zu schützen, wird auch die nächste Generation wieder Opfer diverser Grenzüberschreitungen.
    Während männliche Missbrauchsopfer eher dazu neigen, die Taten aggressiv zu verarbeiten, also selbst zu Tätern zu werden, suchen sich weibliche Missbrauchsopfer im Erwachsenenleben oft Partner, mit denen sie ihre Geschichte wiederholen. So entstehen mehrgenerationale Kreisläufe von Gewalt, Erniedrigung und sexuellem Missbrauch. Wenn in grenzverletzenden Familiensystemen die Loyalitätsbindung an die Eltern sehr hoch ist, opfern Menschen mitunter sogar ihre Kinder den missbrauchenden Großeltern.
    Die Fälle sind unvorstellbar, aber unzählig: Eine alleinerziehende Mutter überlässt ihre älteste Tochter im gleichen Alter, in dem der Vater begonnen hatte, sie zu missbrauchen, den Großeltern. Ein Mann, der in seiner Kindheit Opfer familiären Inzests wurde, besucht seine Eltern einmal im Monat mit seinen Kindern. Die drei Erwachsenen leiten die Kinder zu »Doktorspielchen« an, fotografieren und filmen sie dabei. Die Wochenendbeschäftigung fliegt auf, als die Kinder im Kindergarten durch stark sexualisiertes Verhalten auffällig werden, andere Kinder zur Masturbation auffordern und die Erzieher fragen, ob sie Fotos mit entblößtem Unterkörper von ihnen machen möchten. Die Täter kommen vor

Weitere Kostenlose Bücher